Eesti, der estnische Name von Estland, passt gut zu dem Land im mittleren Norden Europas: kompakt und eindrucksvoll. Das nördlichste der drei Länder im Baltikum ist zugleich das kleinste. So baltisch ist Estland allerdings gar nicht, zumindest sprachlich nicht: Die estnische Sprache gehört nicht zu den baltischen Sprachen wie Litauisch und Lettisch, sondern zu den finno-ugrischen Sprachen. Estnisch erinnert an das Finnische, dessen sprachliche Sphäre nur wenige Kilometer nördlich der estnischen Hauptstadt Tallinn beginnt. Das östliche Nachbarland Russland ist ebenfalls nicht weit: Viele Jahrzehnte lang stand Estland unter russischem bzw. sowjetischem Einfluss. Und auch die Deutschen haben hier ihre mal herrschaftlichen, mal zerstörerischen Spuren hinterlassen.
Estland, das baltisch-skandinavisch-sowjetisch-deutsche Land, ist schwer zu fassen. In Mitteleuropa haben wir kaum vorgefertigte Bilder über das Baltikum. Die Reihenfolge „Estland, Lettland, Litauen“ ist da oft die einzige Assoziation. Allenfalls ist noch die Vorreiterrolle bekannt, die Estland in puncto Digitalisierung einnimmt.
Und sonst? Helmut – der mit mir schon in Rumänien und Albanien war – und ich machen uns auf den langen Weg, um mehr über dieses geheimnisvolle Eesti herauszufinden.
Valga – eine Stadt, zwei Länder
Die Reise führt uns in mehreren Tagen per Zug und Bus über Warschau, Kaunas und Riga bis nach Valga. Die Stadt ist zweigeteilt: Mitten durch die Innenstadt verläuft ein kleiner Bach, der die Grenze zwischen Estland und Lettland markiert. Zu Sowjetzeiten war die Grenze weitgehend bedeutungslos, seit dem EU-Beitritt beider Länder im Jahr 2004 ist es nicht viel anders. Der größte Unterschied ist der Name: Diesseits des Baches heißt die Stadt Valga, jenseits davon Valka. Einen alten deutschen Namen gibt es auch noch: Walk.
Auf einer Plattform über dem Bach ist eine Schaukel montiert. Kinder wechseln unter fröhlichem Gekreische zwischen den beiden Ländern hin und her: So sollten alle Grenzen aussehen! Apropos Grenze: Eine symbolische, sehr deutliche Grenze ziehen alle drei Länder im Baltikum zu Russland. Wohin wir auch kommen, überall hängen gelb-blaue Fahnen in Solidarität mit der Ukraine.
Auch die estnische Fahne flattert oft im Wind. Unter der sowjetischen Herrschaft waren die blau-schwarz-weißen Streifen verboten, jeder Ausdruck der nationalen Eigenständigkeit wurde brutal unterdrückt. Seit Estland mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion die staatliche Unabhängigkeit wiedererlangt hat, wird die Flagge mit den drei Nationalfarben umso stolzer gehisst.
Tartu: Das Athen des Nordens
Tartu, die zweitgrößte Stadt Estlands, liegt im Süden des Landes inmitten einer flachen Wald-, Wiesen- und Sumpflandschaft. Vom Dach der Kathedrale aus, die schon seit Jahrhunderten nur noch als Ruine erhalten ist, sehen wir hauptsächlich Bäume. Abgesehen von ein paar Kirchtürmen bleiben die meisten Sehenswürdigkeiten Tartus bescheiden unter der Baumgrenze. Das trägt sicherlich dazu bei, dass Tartu einen solchen Reiz auf uns ausübt: Das Leben in der Stadt am Emajõgi-Fluss ist entspannt, die Luft angenehm frisch, die Leute sind freundlich.
Tartu spielt in der Geschichte Estlands eine wichtige Rolle, und das liegt hauptsächlich an der Tartu Ülikooli, der Universität von Tartu. Das Gebäude mit den griechischen Säulen – von dem sich der Beiname „Athen des Nordens“ ableitet – wird gerade renoviert, als wir daran vorbeispazieren. Dafür hat das Universitätsmuseum geöffnet und wir erfahren viel über bedeutende wissenschaftliche Erkenntnisse, internationale Vernetzung und – auch sehr wichtig – das studentische Leben in Tartu. Die Universität ist seit ihrer Gründung im Jahr 1632 ein Anziehungspunkt für Forscher*innen und Studierende aus ganz Europa, die für eine entsprechend lebendige, anregende Atmosphäre sorgen.
Tallinn, Eesti pealinn
Das Eisenbahnnetz Estlands ist leider schlecht ausgebaut. Aber immerhin: Zwischen Tartu und Tallinn verkehren regelmäßig Triebwägen und bringen uns flott und unkompliziert in guten zwei Stunden in die estnische Hauptstadt. Die Landschaft ist hier einmal mehr sehr flach – kein Wunder, misst doch der höchste „Berg“ Estlands gerade mal 318 Meter.
Tallinn – der Name bedeutet „dänische Stadt“ – beherbergt uns aber nur kurz. Die Stadt ist heillos überlaufen, nachdem am Tag davor ein Rammstein-Konzert mit etwa 70.000 Besucher*innen stattgefunden hat. Wir schlendern abends kurz durch die mittelalterliche Altstadt und lassen uns dann von Fans der Rockband vorschwärmen, dass das Konzert absolut einmalig war. „A once in a lifetime experience“, sagt ein junger Mann aus Israel. „Muss man gesehen haben“, stellen deutsche Fans unisono fest. Die Karten für das Konzert hätten wir allerdings schon vor drei Jahren kaufen müssen. Tja – beim nächsten Mal dann!
Saaremaa, das Inselland
Seit ich im Jahr 2015 das erste Mal in Estland war – damals gab es diesen Blog noch nicht, so lange ist das schon her! -, habe ich mir vorgenommen, die Insel Saaremaa westlich des estnischen Festlandes zu besuchen. Jetzt ist es endlich soweit! Das lange Warten hat sich mehr als gelohnt: Die Insel, die wörtlich übersetzt „Inselland“ (saare maa) heißt, ist ein einziger Ferientraum.
Das liegt vor allem an der spektakulären Natur: Kilometerlange Sandstrände finden sich hier genauso wie einsame Wald- und Wiesengebiete, Seen und Sumpflandschaften. Sogar Steilküsten mit bis zu 20 Meter hohen Felswänden hat die sonst sehr flache Insel zu bieten. Obwohl Saaremaa ein beliebtes Urlaubsziel ist, hält sich der estnische Massentourismus in Grenzen. Ist schon am Strand wenig los, so haben wir die Ostsee mit ihren 14 bis höchstens 18 Grad Wassertemperatur fast für uns alleine. Mein winterliches Kaltwasser-Training hat sich gelohnt!
Saaremaa ist bäuerlich geprägt, das zeigen nicht nur die meist grauen Bauernhöfe, sondern auch die historischen Windmühlen, die heute in dem Ort Angla in einem Freilichtmuseum zu bewundern sind. In der Hauptstadt Kuressaare mit ihrer beeindruckenden Festung geht es ebenfalls recht beschaulich zu. Das war aber nicht immer so: Der bedeutende Fund von zwei Wikinger-Schiffen im kleinen Ort Salme zeigt, dass hier früher erbittert gekämpft wurde. Auch im Zweiten Weltkrieg hat hier eine große Schlacht stattgefunden, später war die Insel als Außengrenze der UdSSR lange Zeit eine Sperrzone.
Wer genau schaut, findet hier sogar noch Spuren der früheren deutschsprachigen Bevölkerung. Der deutsche Name von Saaremaa, Ösel, spielt heute zwar keine Rolle mehr. Aber in manchen Kirchen begegnen uns alte deutsche Inschriften, die wir nur schwer entziffern können. Auf einem Stein steht der historische deutsche Name von Kuressaare eingemeißelt: Arensburg.
Um ebenfalls einen Beitrag zur Verständigung zu leisten, nehmen wir uns auf Saaremaa etwas Zeit, um Estnisch zu lernen. Die kurzen Wörter machen mir so viel Spaß, dass ich schon bald ein paar Ausdrücke verstehe. Zugute kommt mir außerdem ein relativ hoher Anteil an Wörtern, die ans Deutsche erinnern. Köök – Küche, rand – Strand, kartul – Kartoffel, kohv – Kaffee, politsei – Polizei, meri – Meer, das sind nur einige Beispiele.
Ein weiteres wichtiges Wort auf Saaremaa ist meteoriidi-kraater. Vor tausenden von Jahren hat ein Meteorit mehrere Krater in die idyllische Landschaft geschlagen. Der größte von ihnen ist heute ein kreisrunder Teich und von einer einzigartigen, direkt außerirdischen Schönheit.
Sommerhauptstadt Pärnu
In Pärnu steppt nicht der Bär, sondern der Pär, witzeln wir, als wir nach einer dreistündigen Busfahrt (inkl. Übersetzung mit der Fähre zurück aufs Festland) in dem estnischen Badeort aussteigen. Pärnu gilt als inoffizielle Sommerhauptstadt des Landes, die in den wärmeren Monaten mit ihrem schönen Sandstrand und den traditionsreichen Kuranstalten viele Menschen anlockt. Wir verzichten auf den Heilschlamm und werfen uns lieber gleich in die kühlen Fluten. Eine Rutsche, die wie ein Elefant aussieht, ist das Zentrum des langen Strandes und gleichzeitig eine Art Maskottchen der Stadt.
Für eine Sommerhauptstadt geht es aber auch hier eher gemächlich zu. Überlaufen ist hier wirklich gar nichts! Selbst in den Lokalen finden wir immer einen Platz. (Vielleicht liegt das an der Armee von Gelsen, die uns überallhin verfolgt…?) Wir gehen einmal russisch essen, einmal armenisch. Das kulinarische Erbe der Sowjetunion ist definitiv ein Highlight in Estland – hier schlemmen wir uns quer durch Osteuropa.
Zum Abschluss besuchen wir noch die Mole von Pärnu, die rund zwei Kilometer ins Meer hinausragt. Dort befindet sich ein Denkmal für die untergegangene Estonia – der Untergang der Passagierfähre im Jahr 1994 war die größte Schiffskatastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Ereignisse jener stürmischen Nacht sind bis heute nicht geklärt. Mit Schaudern wenden wir uns ab und konzentrieren uns lieber auf die glitschigen Steine der Mole. Es ist fast wie über Wasser zu gehen! Wer bis zum Ende der Mole balanciert und sich dort küsst, soll lebenslanges Glück haben – so heißt es. Dafür ist aber leider keine Zeit mehr, wir heben uns dieses Erlebnis für das nächste Mal auf.
Jetzt heißt es erst mal, die laaange Heimreise anzutreten, die uns mit dem Bus nach Riga, mit dem Zug nach Liepāja, mit der Fähre nach Travemünde, mit dem Bus nach Lübeck und schließlich wieder mit dem Zug über Hamburg und Nürnberg bis zurück nach Wien führt.
Hüvasti, Eesti – bis bald!
Weiterlesen
Vor drei Jahren war ich in Litauen und Lettland unterwegs: https://stadtstreunen.at/unterwegs-im-weissen-land/
Der Untergang der Estonia gibt bis heute Rätsel auf: https://www.profil.at/ausland/untergang-der-estonia-ein-15000-tonnen-schweres-geheimnis/401451976
Tipps
Universitätsmusem in Tartu: https://www.muuseum.ut.ee/en
Informationen über Saaremaa: https://www.visitestonia.com/de/urlaubsziele/die-inseln/die-inseln-saaremaa-muhu
Zugsverbindungen in Estland: https://elron.ee/en
2024 wird Tartu zur europäischen Kulturhauptstadt: https://www.tartu2024.ee/en
Reiselektüre
Auf dem Weg nach Estland lese ich den bekannten Roman „Nachtzug nach Lissabon“ von Pascal Mercier (alias Peter Bieri). Dem Titel nach habe ich mir eine etwas andere Geschichte erwartet, die mehr mit Zügen und weniger mit Philosophie zu tun hat. Ich muss wohl selbst einen Nachtzug-Roman schreiben…
Auf Saaremaa lese ich „Das Haus an der Düne“ von Agatha Christie. Ich bin kein Krimi-Fan, aber das könnte noch was werden!
Soundtrack
Auf dem Weg nach Saaremaa höre ich einen großartigen Podcast aus der Reihe „Superscience Me. Wissenschaft und Fiktion“. Julia Grillmayr macht sich in der Folge „Der Rest ist Frau und Wildnis“ auf die Suche nach Verbindungen zwischen Frauen und der Natur. Unbedingt hörenswert! https://o94.at/programm/sendung/id/1551307
Und sonst darf natürlich Rammstein im Soundtrack dieser Reise nicht fehlen. Hier mein aktueller Favorit:
Und jetzt?
Wenn du bis hierher gelesen hast, darfst du gerne einen Kommentar schreiben 🙂 und sonst gilt wie immer: Nachreisen nicht nur erlaubt, sondern ausdrücklich empfohlen!
2 Kommentare
Ist diese Kirche in Kihelkonna auch die Kiche in der die Eltern von Bundespräsident Van der Bellen 1931 geheiratet haben?
Das musste ich jetzt recherchieren. Ja, tatsächlich haben dort die Eltern des österreichischen Bundespräsidenten geheiratet! 2018 stattete van der Bellen der Gemeinde einen Besuch ab, wie hier nachzulesen ist: https://saartehaal.postimees.ee/6669215/austria-president-kulastas-vanemate-noorpolveradu