Diesen Sommer rief laut die Ostsee nach mir: Liefere dich Wind und Wetter aus, lass dich von meinen rauen Wellen einfangen, entdecke den goldenen Bernstein, den ich für dich an die Küste trage! Komm zu mir, entdecke den Sand und die Dünen!
Ich hatte keine Wahl: Ich musste ihrem Ruf folgen. Das bedeutete eine lange Reise – zuerst mit dem Zug quer durch Tschechien und Polen bis nach Białystok und am nächsten Tag von dort aus mit dem Bus weiter nach Litauen.
Möwen kreischen über Kaunas
Als ich dann endlich – immer noch weit von der Küste entfernt – in Kaunas aus dem Bus ausstieg, brannte sich das Sonnenlicht in meine Augen, ich wandte mich ab. Es war hell hier, viel zu hell. Nur langsam nahm die Stadt Konturen an, und ich sah bunt bemalte Busse und große Baustellen. Die zweitgrößte Stadt Litauens, im restlichen Europa kaum bekannt, verwandelt sich gerade: Die doch recht herabgekommenen Fassaden lassen viel Platz für fantasievolle Neugestaltungen.
Nur eines gibt es in Kaunas nicht: ein richtig gemütliches Kaffeehaus. In den Take-Away-Kaffeeketten der Stadt lernte ich dennoch eine wichtige Lektion: „Juoda kava“ heißt der schwarze Kaffee und „Balta kava“ der Kaffee mit Milch. Balta – wie Baltikum? Ich fand heraus, dass sich der Begriff Baltikum wirklich von dem Wort für „weiß“ ableitet. Früher nannte man die nicht-slawischen Bewohner*innen der Ostsee „die Weißen“. Woher das kommt, weiß zwar keiner so genau. Ich hatte da aber gleich eine Vermutung…
Von dem anfangs so hellen Licht war allerdings am zweiten Tag nichts mehr zu bemerken. Dunkle Wolken hingen über der Innenstadt von Kaunas. Selbst das schöne Rathaus, das den Spitznamen „Weißer Schwan“ trägt, wirkte grau in Grau. Lediglich die Vogelbeerbäume hinter der mächtigen Burg von Kaunas sorgten mit ihren reifen Früchten für etwas Farbe. Von der düsteren Stimmung völlig unbeirrt waren hingegen die unzähligen übereinander gestapelten Steine am Flussufer. Stoisch wachten sie über den Zusammenfluss von Memel und Neris, den beiden großen Flüssen, die sich ab Kaunas gemeinsam ihren Weg bis an die Ostsee bahnen. Hier quakten die Enten und die Möwen kreischten. Sie riefen mich: Ans Meer, ans Meer!
Rambazamba in Palanga
So einfach war das dann aber gar nicht mit der Ostsee! Als ich endlich, endlich an der Küste angelangt war, hörte ich schon von der Weite das Rauschen des Meeres. Aber um es wirklich zu sehen, musste ich erst die hohen Dünen erklimmen und mich durch messerscharfes Strandgras kämpfen. Kalter Wind blies mir durch die Haare, als ich endlich wirklich am Meer angelangt war, und rosa Wolken hingen am Horizont. Es war schön hier, so schön!
Die raue Idylle am Strand vertragen aber offenbar nicht alle. Auf der Suche nach einem Abendessen stieß ich in dem kleinen Küstenort Šventoji auf ein echtes Kontrastprogramm. Aus kleinen Imbissbuden stank es nach Fett, Musik dröhnte aus den Lokalen und Kinder kreischten nach Zuckerwatte. Die abendliche Kälte hielt die einheimische Bevölkerung nicht davon ab, kurzärmelig auf künstlichen Inseln in künstlichen Teichen zu sitzen – grell beleuchtet von Neonröhren. Sollte das nun das weiße Land sein?
Am nächsten Tag flüchtete ich in das Städtchen Palanga, das ein paar Kilometer südlich liegt und endlose Sandstrände bieten kann. Zum Glück, denn hier war ganz schön viel los: Rund um den langen Steg von Palanga tummelte sich fast halb Litauen, Motorboote rasten auf und ab und die Wellen waren gesprenkelt vor lauter Menschen. Rambazamba in Palanga eben!
Mit ein bisschen Abstand fand ich dann aber doch ein ruhiges Plätzchen in den Dünen. Wind und Wetter war ich hier allerdings wirklich nicht ausgeliefert – eher der Sonne, die auf den schattenlosen Strand herunterbrannte. Immerhin, die Ostsee ist mit ihren 18 oder 19 Grad wirklich eher was für Hartgesottene. Wie gut, dass ich mich mit dem Winterschwimmen darauf vorbereitet habe!
Und der Bernstein? Von dem wertvollen fossilierten Harz war weit und breit nichts zu sehen. Die paar sandfarbenen Steine, die ich am Strand fand, bestanden alle den Test nicht – sie gingen sehr schnell im Salzwasser unter. Bernstein treibt ja auf dem Meer!
Zum Glück fing das Bernstein-Museum in Palanga meine Enttäuschung gut ab. Hier konnte ich das gelbe, rötliche und schwarze Harz in rauen Mengen bestaunen. Besonders beeindruckend: ein Insektenschwarm bei der Paarung, der zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort war – sprich, auf einem Nadelbaum, der gerade einen Klumpen Harz herunterrinnen ließ. So ein Pech aber auch!
Der Norden ruft
Nach ein paar Tagen in Palanga wollte ich herausfinden, ob die Ostsee anderswo auch so schön ist, und fuhr ein paar Kilometer weiter in den Norden. In Liepāja, das schon in Lettland liegt, ließ ich mich schließlich nieder. Lettland gefiel mir auf Anhieb: Die Strände waren hier noch weiter, die Wälder noch wilder, die Wellen noch höher. Jeden Abend verschwand eine rotgoldene Sonne im Meer und machte die ganze Schönheit der Ostsee fast unerträglich. Nur an der Sprache müssen die Lett*innen noch feilen, befand ich nach einigen Tagen. Denn inzwischen hatte ich mitbekommen, dass der Strand hier „Pludmale“ heißt und die Westküste „Rietumkrasts“. Bei aller Liebe zu Lettland: Das klingt wirklich nicht gut!
Aber Liepāja, das auf Deutsch Libau heißt, hat auf jeden Fall noch mehr zu bieten als den Kitsch an der Küste: ein hübsches Stadtzentrum mit vielen hölzernen Häusern, eine Universität und ein tolles Handwerkszentrum. Hier spielt es sich ab – wortwörtlich, denn in Liepāja befindet sich die Konzerthalle „Großer Bernstein“ und einmal im Jahr verwandelt sich die Stadt in die größte Rockbühne von ganz Lettland.
Außerdem besitzt Liepāja eine eher bizarre Attraktion: Der nördliche Stadtteil Karosta war mal ein Kriegshafen des Russischen Reiches und der Sowjetunion, wie schon der Name unmissverständlich klar macht (Kara osta = Kriegshafen). Der Ort war gut gewählt: Denn der Hafen von Karosta friert auch im Winter nicht zu. Karosta entwickelte über Jahrzehnte ein Eigenleben, denn der Stadtteil war von Liepāja weitgehend abgeschnitten und wurde auf vielen sowjetischen Karten gar nicht eingezeichnet.
Heute ist Karosta aber längst von seiner Vergangenheit überholt worden: Die ehemaligen Festungen liegen in Trümmern im Strand und werden von den Wellen der Ostsee ganz langsam abgetragen. Das Gefängnis ist in ein Museum umgewandelt worden und die Jugendlichen machen aus den militärischen Überbleibseln des Stadtteils einen Abenteuerspielplatz. Ende gut, alles gut!
Tausend Kreuze musst du tragen
Irgendwann hieß es dann aber doch Abschiednehmen von der Ostsee, auch wenn sich das Meer am letzten Abend nochmal von seiner allerschönsten Seite zeigte. Aber immerhin, ein paar Eindrücke vom weißen Land konnte ich auf der langen Heimfahrt zurück nach Wien noch sammeln. In Litauen machte ich beim Berg der Kreuze (Kryžių kalnas) Halt.
Wer sich einen Berg erwartet, wird enttäuscht sein, wurde ich davor gewarnt, denn es handelt sich gerade mal um einen kleinen, noch dazu künstlich aufgeschütteten Hügel. Dennoch war ich beeindruckt von dem Berg der Kreuze, allerdings weniger von seiner Höhe, eher von der Last, die ihm im Lauf der Jahrzehnte aufgebürdet wurde: Abertausende Kreuze aus Holz und Metall lagen da über- und untereinander, manche aufwendig hergestellt, manche ganz einfach aus zwei Ästen und einem Faden gebastelt.
In der Sowjetunion entwickelte sich der Berg der Kreuze zu einem Ort des Widerstands gegen die Regierung, mittlerweile ist er längst eine Pilgerstätte für gläubige Menschen aus aller Welt. Ich beobachtete mit einiger Skepsis die vielen Kreuze – manche Kreuzstapel sahen mehr aus wie eine Wühlkiste in einem Ramschladen -, konnte mich der eigenartigen Stimmung an diesem Ort aber doch nicht entziehen.
Ist das wirklich Europa?
Zum Abschluss meiner Reise an die Ostsee erwartete mich noch ein kleines Highlight – also zumindest für Eisenbahnbegeisterte: eine Fahrt mit dem Zug von Kaunas bis Białystok. Es handelt sich dabei um die einzige Zugsverbindung zwischen Litauen und Polen, die noch dazu nur am Wochenende verkehrt. Im locker besetzten Zug befanden sich tatsächlich noch drei weitere Menschen, die ganz aufgeregt schienen und ihre Kameras parat hielten.
Durch die Zeitverschiebung dauerte die Fahrt noch eine Stunde länger, als ich gedacht hatte. Zwischen der Ostsee und Wien liegen eben mehr als nur ein paar Kilometer. Aber wenn mich die Wellen und die weiße Weite wieder rufen sollten… ich bin bereit!
1 Kommentare
Ich werde verrückt, ausgerechnet in Šventoji, Palanga und Liepāja waren wir u.a. auch an unserem Baltikum-Trip 2015 (auch irgendwie so ähnlich von der Reihenfolge, aber ist ja nicht allzuweit auseinander…)