Das Ungeheuer im Donaukanal – eine Kurzgeschichte

von Stadtstreunerin | Eva

Maria ließ ihre Beine über die Kaimauer baumeln. Sie schaute argwöhnisch die Mauer hinunter und überlegte, ob sie die Zehen ins Wasser tauchen sollte. Der Fluss brachte dunkles Wasser mitten in die Stadt. Bestimmt war es eiskalt. „Maria, magst du noch ein Bier?“ Jonas riss sie aus ihren Gedanken. „Ja, klar“, sagte Maria und schaute hinüber zu den Burschen.

Sie saßen nicht einmal eineinhalb Meter von ihr entfernt, aber gedanklich war Maria gerade ganz woanders gewesen. Sie nahm das Bier von Jonas und dachte weiter nach. Ihr wurde klar, dass das Baden im Kanal ein städtisches Tabu war. Niemand würde hier gegen die Strömung schwimmen oder sich von ihr treiben lassen. Dabei glitzerten die bunten Lichter der Bars so schön auf der Wasseroberfläche. „Hey, Leute“, rief sie ihren Bekannten zu. „Habt ihr eigentlich schon mal darüber nachgedacht, im Kanal baden zu gehen?“

Die Burschen schauten angewidert zu ihr. „Na wäh“, sagte einer. „Hat schon einen Grund, warum das niemand macht“, lachte ein anderer. Nur Jonas dachte kurz ernsthaft darüber nach und sagte: „Ein Freund von mir hat das wirklich schon mal gemacht. Der war mal richtig betrunken nach einem Konzert und ist dann so geschwankt, dass er das Gleichgewicht verloren hat und in den Kanal gefallen ist!“ Die Burschen lachten. Maria verzog das Gesicht und starrte weiterhin auf das Wasser. „Wenn du magst, können wir später ein bisschen spazieren und es ausprobieren, wo nicht so viele Leute sind“, rief ihr der eine Bursche spöttisch zu. „Aber nur, wenn du dich ausziehst!“ Alle lachten. „Nur, wenn du dich zuerst ausziehst!“ erwiderte Maria und kam sich nicht besonders schlagfertig vor. Sie wandte sich wieder dem Kanal zu.

Plötzlich sah sie im Wasser ganz nah an der Mauer ein größeres Stück Holz treiben. Als es näher kam, stockte ihr der Atem. Das Treibholz hatte ein Auge! „Schaut mal“, rief sie mit schriller Stimme. Die Burschen waren genervt. „Was ist denn?“ – „Na da, im Kanal! Ein Stück Holz mit einem Auge dran!“ Die Burschen drängten sich zur Kaimauer, waren aber nicht beeindruckt. „Da ist ja gar nichts“, sagte einer. „Doch, das Holz, da, jetzt schwimmt es gleich an uns vorbei!“ – „Ach so, ja. Treibholz halt. Holz, das treibt. Uuuh!“ Die Burschen lachten sie aus.

Doch dann kam Bewegung in das Holz. Es riss sein Maul auf und Maria erkannte scharfe, spitze Zähne. „Ein Krokodil! Ein Krokodil! Im Kanal!“ Maria war völlig außer sich. „Ein Kroki… Kriko… Krokidol!“ Es verschlug ihr die Sprache. Sie starrte wortlos auf die Strömung, die das Krokodil schon längst weitergetrieben hatte. „Gar kein Krokodil ist das, krieg dich ein, Maria!“ Jonas stupste sie an. „Einatmen, ausatmen, ganz ruhig!“ Doch Maria war nicht zu beruhigen. Sie hatte es doch gesehen, es war real, es war da, ein echtes Krokodil!

Die anderen setzten sich rund um sie und sahen sie erschrocken und mitleidig an. Einer hielt ihr noch ein Bier hin. „Da, trink, das hilft dir vielleicht! Wir haben alle nur ein Stück Holz gesehen, kein Krokodil.“ – „Aber habt ihr nicht das Maul gesehen, die spitzen Zähne, den dunklen Rachen?“ Alle schüttelten den Kopf und schauten ratlos. Plötzlich griff Maria zu ihrem Handy und wählte die Nummer der Polizei. „Hallo? Ja, hallo, ich möchte melden, ich habe gerade ein Krokodil gesehen, im Kanal ist es geschwommen und hat sein Maul aufgerissen. – Wo? Ach so, ja, da bei der Urania circa!“

Die anderen schauten sie entgeistert an und warteten gespannt. „Ja, ja, genau“, sagte sie ins Telefon. „Mit so spitzen Zähnen, ja.“ Dann nannte sie noch ihren Namen und bedankte sich, bevor sie auflegte. Alle starrten sie an. „Und? Was sagt die Polizei?“ Jonas traute sich als erster zu fragen. Maria wirkte auf einmal wieder ganz gelassen. Alles war still. Dann heulten ganz in der Nähe die Sirenen auf.


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