Seit 2017 arbeite ich an einem Roman namens Mirja, der die Geschichte der 25-jährigen Mia Mahonik erzählt. Mia hat es geschafft: Sie hat ihr Heimatdorf weit hinter sich gelassen. In Wien baut sie sich ein neues Leben auf und verfolgt ehrgeizige Karrierepläne. Doch in einem besonders heißen Sommer ändert sich alles: Mia fühlt sich plötzlich vom Wald verfolgt. Die wahnhaften Bilder von Tannen und Fichten, die unkontrolliert vor ihrem inneren Auge auftauchen, treiben sie vor sich her. Sie wird immer schneller, immer abgehetzter, die Stadt wird zu ihrem letzten Zufluchtsort. Bis eines Tages selbst die Stadt ihr keinen Halt mehr gewährt… Mia erkennt schließlich, dass sie sich ihrer Herkunft stellen muss.
Derzeit bin ich auf der Suche nach einem Verlag.
Der folgende Ausschnitt soll dir, liebe Leserin, lieber Leser, einen ersten Einblick in den Roman geben. Viel Spaß beim Lesen!
Mia hetzte sich ab. Ein Schritt, noch ein Schritt, einer größer als der nächste, bis sie zu laufen begann. Es musste schneller gehen, die Stadt musste unter ihren Füßen zu fliegen beginnen, sie durfte nicht anhalten, nicht jetzt, keine Pause, immer weiter. Mia keuchte schon, in ihren Beinen war ein stechender Schmerz, und der Schweiß lief ihr in Strömen herab. Die Sonne stand tief, brannte aber noch in ihr Gesicht. Mia hielt durch, rannte über den Zebrastreifen auf die andere Straßenseite, rannte an Fassaden entlang, ein Haus ging ins nächste über. Es war wichtig, dass sie dem Wald entkam, und dazu musste sie laufen, immer schneller werden, bis alle Farbtöne ineinander verschmolzen, bis sie kaum noch etwas erkannte, bis sie in Sicherheit war. Sie bog um noch eine Ecke, rammte fast eine Passantin und kam aus dem Gleichgewicht, aber dann stand sie endlich vor ihrer Tür. Schnell hinein in das Haus, ich muss mich vor dem Wald retten, los, los, komm schon. Endlich fand sie den Schlüssel, steckte ihn mit zitternden Händen ins Schloss. Kaum war die Tür zugefallen, blieb sie stehen und musste sich fast übergeben, so schwindlig war ihr auf einmal. Die Stadt zog vor ihren Augen vorbei, noch einmal, Fassade für Fassade, bis alles zu einem Stillstand kam. Sie atmete so tief, wie sie nur konnte, die Luft rasselte in ihrer Lunge. Nur langsam beruhigte sich ihr pochendes Herz, dann ging sie weiter, die Wendeltreppe hinauf, an den kaum benutzten Wasserbecken vorbei, die in jedem Stockwerk an der Mauer montiert waren, bis sie vor der Wohnungstür stand. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und sperrte die Tür auf.
„Mia!“ Ihre Mitbewohnerin kam ihr entgegen. „Da bist du ja endlich!“
„Hallo Haya“, krächzte Mia und räusperte sich.
Haya ging in die Küche und holte ihr ein Glas Wasser, während sich Mia die Schuhe abstreifte und das elegante Shirt abwarf. Sie wollte sich nicht ganz ausziehen, obwohl ihr BH zu eng war und Haya manchmal nackt herumlief. Sie tolerierte es, aber mochte es nicht, selbst bei dieser Hitze nicht. Sie ließ die Hose und den BH an, lockerte nur ein wenig seine Träger.
„Hier, trink mal, du siehst erschöpft aus.“ Haya hielt ihr das Glas Wasser hin.
Mia nickte und trank gierig, bis sie sich verschluckte. Sie hustete. Diesmal war sie nur knapp dem Wald entkommen, das wusste sie, aber sie wollte Haya nicht davon erzählen. Nein, sie konnte es gar nicht erzählen. Wie sollte sie denn in Worte fassen, dass sie jetzt, im Sommer, mitten in der Stadt vom Wald verfolgt wurde?
„Immer noch sehr warm draußen“, versuchte Mia zu erklären, sobald sie wieder normal atmen konnte, „und ich hatte nichts zu trinken mit“.
„Passt schon.“ Haya winkte sie in die Küche, lässig wie immer. „Komm, ich hab uns Abendessen gemacht.“
„Wirklich?“
Mias Miene hellte sich auf, sie liebte das Abendessen mit ihrer Mitbewohnerin. Haya vertrieb sich die Zeit damit, am Markt frisches Gemüse einzukaufen, Kräuter und Gewürze. Danach holte sie oft noch ein Fladenbrot von der türkischen Bäckerei nebenan und stellte sich stundenlang in die Küche, um alles zuzubereiten. Diesmal hatte sich Haya aber selbst übertroffen, der Tisch ging beinahe über vor lauter kleinen, bunt gemusterten Tellern, auf denen Mia eingelegte Melanzani sah, verschiedene Aufstriche, eine braune Paste und klein geschnittenes Gemüse.
„Wenn schon Sommer in der Stadt, dann so“, sagte Haya und machte eine einladende Handbewegung. Ihr hellgelbes Kleid, ihre dunklen Locken schwangen mit ihr mit. Sie wirkte wie der Sommer in Person. Mia war es gewohnt, dass Haya hübsch aussah, sonst hätte sie ihr vielleicht ein Kompliment gemacht.
„Fast wie ganz woanders“, staunte sie stattdessen. Sie setzte sich hin und lud sich ihren Teller voll, dann biss sie an der Stelle in das Fladenbrot, wo die meisten Sesamkörner waren.
„Aber Achtung vor dem da!“ Haya deutete auf die braune Paste. „Das ist sehr scharf geworden, ich habe zu viel Chilipulver erwischt.“
Zu spät, Mia hatte schon davon gekostet. „Sehr scharf? Viel zu scharf ist das!“, rief sie und riss den Mund auf, um sich Luft zuzufächeln. Tränen traten ihr in die Augen. Haya zupfte ein Stück Fladenbrot ab, das sie ihr mit schuldbewusstem Blick reichte. Als die Schärfe nachgelassen hatte, merkte Mia, wie sich ihre Schultern entspannten. Sie holte tief Luft. Sie war da, wieder da, zuhause, in Sicherheit. Endlich fühlte sie sich besser. (…)
In der Nacht kühlte es kaum ab, es war warm und schwül, von irgendwoher war es feucht geworden. Die dampfige Luft verwandelte die Stadt in einen Dschungel. Anstelle des dichten, dunklen Grün des Waldes war zwar der Asphalt getreten, der Beton und das Bitumen. Aber wer konnte schon sagen, wie lange es dauern würde, bis der Auwald unten am Fluss die Stadt zurückeroberte und alles mit seinen Lianen überzog? Mia lag in ihrem Bett und starrte auf die kahle Wand gegenüber. Wieder der Wald. Warum sah sie Nadelbäume, dicht bewachsen mit rauschenden Zweigen, die niemand anderer sehen konnte? Wozu die Bilder von flechtenüberzogenen Stämmen? Wieso hatte sie Angst davor, dass die Stadt vom Wald verschluckt werden könnte? Das ergab alles keinen Sinn. Krampfhaft versuchte sie, an etwas anderes zu denken, an das Abendessen mit Haya, an Hayas Erzählungen, an das Fladenbrot mit den vielen Sesamkörnern. Ob Hayas Eltern wohl damit einverstanden waren, dass ihre Tochter regelmäßig in der türkischen Bäckerei einkaufte?
„Haya“, hörte sie die strenge Stimme von Hayas Mutter, „wir sind Armenier! Denk daran. Wir haben dich sogar nach Armenien benannt!“
Mia wusste, was das bedeutete: Haya war eine Kurzform des armenischen Namens von Armenien, Hayastan, den ihre Eltern gewählt hatten, um ihre Verbundenheit zu dem Land zu unterstreichen. Außerdem hielten sie einen peinlich genauen Abstand zu allem, was irgendwie Türkisch war. Sie hatten eben ihre Prinzipien, im Gegensatz zu ihrer Tochter. Haya war in der Stadt aufgewachsen, diese Dinge gingen sie herzlich wenig an. Und wenn der Verkäufer mit dem dichten, schwarzen Bart in der Bäckerei stand, war es sowieso um sie geschehen.
„Er schenkt mir immer einen Sesamring dazu“, sagte sie, aber Mia hatte den Verdacht, dass es hier um mehr als nur um einen Sesamring ging. Vielleicht war Haya wirklich in ihn verliebt und nicht nur auf eine schnelle Affäre aus, wie sonst so oft? Solange Haya sie mit Brot und Gebäck versorgte, konnte es ihr egal sein. Mia war nach den langen Tagen im Büro zu schlapp, um sich selbst um das Abendessen zu kümmern.
Am Nachmittag bin ich müde und jetzt munter. Und diese Gedanken helfen auch nicht beim Einschlafen, stellte sie nach einiger Zeit fest und stand schließlich auf. Sie holte sich ein Glas Wasser aus der Küche und versuchte dann, wenigstens zu dösen. Erst als sich weit im Osten schon die Dämmerung ankündigte, schlief sie richtig ein. (…)
Am nächsten Morgen wurde sie von ihrem Handy geweckt. Es dauerte, bis sie merkte, dass es nicht wie gewöhnlich der Wecker war, der sie aus dem Schlaf zog. Jemand rief an. Mia mochte die Augen nicht öffnen und versuchte, das Klingeln zu ignorieren. Sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie vergessen hatte, das Handy über Nacht auf lautlos zu stellen. Das ist bestimmt nur so eine lästige Telefonumfrage, die sollen mich in Ruhe lassen. Sie griff aber trotzdem zu dem Handy und sah, dass es Martin war, ihr Bruder, der sonst nie anrief. Lieber schrieb er Nachrichten, anstatt zu telefonieren, und das auch nur dann und wann. Das Handy hatte zu klingeln aufgehört. Mia beschloss, ihren Bruder später, irgendwann am Nachmittag zurückzurufen. Das musste reichen, so wichtig konnte es gerade nicht sein. Sie stand auf und ging ins Bad, um sich kurz abzuduschen. Das Wasser rauschte laut und übertönte alle anderen Geräusche. Sie überlegte, was sie anziehen sollte, und war in ihre Gedanken so vertieft, dass sie kaum noch merkte, wo sie war. Erst als sie routiniert das Wasser abdrehte, wurde ihr wieder bewusst, dass sie zuhause in ihrem Badezimmer war. In dem Moment klopfte Haya an der Tür.
„Mia, bist du’s gleich? Ich hab’s eilig“, hörte sie dumpf die Stimme ihrer Mitbewohnerin.
Haya musste wohl zum frühen Yoga-Kurs. In letzter Zeit war sie sogar motiviert genug, um schon um halb neun Uhr in der Praxis zu sein, oder in dem Institut, oder wie auch immer sie es nannte. Dabei fing die Ausbildung erst im September richtig an. Mia überlegte, ob sie Haya einmal begleiten sollte, um herauszufinden, warum Haya von kaum etwas anderem mehr redete. Neugierig war sie schon, was ihre Freundin an Yoga fand. Als sie schließlich fertig angezogen und bereit fürs Büro war, hatte sie längst auf Martin und seinen Anruf vergessen.
Am Weg zur U-Bahn-Station suchte Mia wieder den Schatten der hohen Häuser. Sie passierte die Baustelle und hielt sich dabei die Ohren zu. Ein Bauarbeiter stemmte den Asphalt auf, er schien von dem Lärm nicht viel mitzubekommen. Obwohl er keinen Gehörschutz trägt, fiel Mia auf. Hoch über den Häusern zogen schon die Vögel ihre Bahnen über den bleichen Himmel. Sie zirpten so laut, als würden sie schreien und klagen. Die Vögel mögen den Sommer auch nicht. Auf seltsame Weise fühlte sie sich mit den schwirrenden Tieren verbunden. Als sie in den düsteren Schacht hinabstieg und auf die nächste U-Bahn wartete, fiel ihr ein, wie sie mit Martin auf der Wiese hinter dem Haus ihrer Mutter gespielt hatte. Sie sah die Szene regelrecht vor sich, wie sie am Waldesrand saßen und ganz vertieft waren in ein Spiel mit Bucheckern, Eicheln und Tannenzapfen. Sie versuchten, aus langen Grashalmen eine Höhle zu bauen, in die sie Bucheckern und Eicheln steckten, die für Kinder oder Tiere standen. Ein Tannenzweig bildete den Teppich, damit sie es schön weich hatten. Auf einmal ging ein Zucken quer durch die Bilder von damals: „Maria! Martin! Es reicht! Kommt jetzt endlich!“ Durchdringend, grell, ein Schrei, der die Luft zerteilte und ihre Erinnerungen zerstob. Gleichzeitig fuhr die U-Bahn ein; Mia zuckte zusammen. Ohne nachzudenken stieg sie ein, die Türen schlossen sich hinter ihr und der Sog des anfahrenden Zuges drückte sie auf einen der roten Plastiksitze. Ich hasse den Wald, stöhnte Mia innerlich, und Martin kann mich mal. Soll er sich eben öfter melden. Wenn er glaubt, ich rufe sofort zurück, sobald er einmal im halben Jahr anruft, dann hat er sich gründlich getäuscht. Sie fragte sich, was seit dem gemeinsamen Spielen am Waldrand passiert war, dass sie heute so wenig Kontakt hatten. Sie war in die Stadt gezogen, vielleicht war es das. Martin war immer dagegen gewesen, hatte ihr vorgeworfen, die Familie in Stich zu lassen, als sie einen großen Koffer gepackt und sich damit in den Zug gesetzt hatte. Vier Stunden später war sie schon in der Stadt gewesen, nicht weit weg und doch in einem anderen Leben. Die Ansage „Karlsplatz“ drang zu ihr durch. Sie stand auf und ließ sich von den anderen Menschen zu den Türen und dann zur Rolltreppe schieben.
Auf der Straße griff sie zu ihrem Handy und sah, dass Martin sie noch weitere drei Mal angerufen hatte. Es ist ernst, dachte sie und spürte, wie ihr Herz schneller klopfte. Einen Moment lang überlegte sie, dass sie sich lieber bei Tanja oder Sanja melden wollte, als mit ihrem Bruder zu sprechen. Nachher dann, sagte sie sich und zwang sich, auf den Namen ihres Bruders zu klicken. Es läutete, aber nur einmal, dann hob er schon ab.
„Mia“, schrie er ihr ins Ohr. Sie fühlte sich sofort unangenehm an früher erinnert. Warum muss er immer so schreien. Martin schrie weiter: „Du musst sofort kommen! Wir brauchen dich hier!“
Mia runzelte die Stirn. „Was, warum?“, fragte sie. „Was ist denn passiert?“ Ihre Stimme blieb ruhig, dafür wurde Martin noch lauter.
„Mama ist im Krankenhaus! Sie ist einfach so umgekippt, während der Arbeit, und jetzt ist sie im Krankenhaus! Ein Kreislaufzusammenbruch, sagen die Ärzte, aber vielleicht war es auch ein Schlaganfall! Wir wissen es noch nicht genau!“
Mias Herz nahm weiter Fahrt auf, sie wand sich, bewegte unbehaglich ihre Schultern. Es knackste laut. Sie blieb stehen und atmete tief ein. „Ja, gut, ich komme“, sagte sie. „Am Wochenende, okay?“ Es war ohnehin schon Donnerstag.
„Morgen wäre besser“, knurrte Martin, immer noch zu laut. „Aber wie du meinst. Komm so bald wie möglich. Ich schaffe das alleine nicht.“
Er versucht mir, ein schlechtes Gewissen einzureden. Was soll das? Ein Kreislaufzusammenbruch war doch nicht so tragisch, das konnte schon mal passieren. Bestimmt war es auch am Land viel zu heiß gewesen. In der Zeitung stand immer wieder, dass die Hitze gefährlich war und die Anzahl an Kreislaufzusammenbrüchen und Herzinfarkten an besonders heißen Tagen deutlich erhöht war. Sie vereinbarte mit Martin noch, dass er sie vom Bahnhof abholen würde, und als sie merkte, dass seine Stimme etwas ruhiger wurde, verabschiedete sie sich. Dann musste sie sich erst einmal an eine Fassade anlehnen. Ihr war, als würde sie den Boden unter den Füßen verlieren, als hätte sie keinen Halt mehr auf dem Asphalt. Sie keuchte. Jetzt musste sie zurück ins Dorf, zurück in den Wald, und das war das Letzte, was sie gerade gebrauchen konnte.