Was hält Europa im Inneren zusammen? Eine Frage, die mich seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine sehr beschäftigt. In den gediegenen Wiener Kaffeehäusern diskutieren die Menschen über die Kriegsverbrechen in Butscha und Mariupol, Orte, von denen vorher kaum jemand gehört hat. Europa ist auf einmal spürbar näher als davor. Aber was ist es, das diesen Kontinent ausmacht und die Menschen über Sprachen und Kulturen hinweg verbindet?
Helmut und ich wollen es wissen (zugegeben – die Frage stelle eher ich mir; Helmut will einfach eine interessante Reise machen). Nachdem wir im Winter gemeinsam in Rumänien und dann in Schweden waren, entscheiden wir uns jetzt im Frühling für eine Reise in den Süden. Wir wollen Ostern auf Korfu verbringen und auf dem Weg dorthin herausfinden, wie alles mit allem zusammenhängt – oder auch nicht.
Die Nähe so fern
Los geht’s an einem frühlingshaften Sonntag Anfang April. Zwischen Wien und unserem ersten Zwischenziel Novi Sad liegen gerade mal 420 Kilometer Luftlinie. Trotzdem brauchen wir fast den ganzen Tag, um die zweitgrößte Stadt in Serbien zu erreichen. Mit vier Zügen und zwei Bussen geht die Reise quer durch Ungarn und die Vojvodina nur schleppend voran, elf Stunden sind wir insgesamt unterwegs. Ein verkehrs- und kulturpolitischer Skandal: Immerhin ist Novi Sad heuer Kulturhauptstadt Europas!
Die Schengen-Außengrenze ist mit einem massiven Stacheldrahtzaun mehr als deutlich markiert. Ein beklemmender Anblick: Kaum ist eine Mauer in Europa gefallen, wird schon die nächste gebaut. Umso erfreulicher sind die Bemühungen an manchen Bahnhöfen, sich als Teil von etwas Größerem zu zeigen: In Kelebia, dem letzten Bahnhof in Ungarn, finde ich eine Tafel mit einem Esperanto-Crashkurs.
In Subotica, der ersten Stadt in Serbien, sind die meisten offiziellen Aufschriften zweisprachig: Serbisch und Ungarisch. Überhaupt ist die serbische Provinz Vojvodina ein Europa im Kleinen: Hier leben Menschen unterschiedlichster Kulturen und Sprachen zusammen, allen nationalistischen Bestrebungen zum Trotz.
Auch in der Hauptstadt der Vojvodina, Novi Sad, spiegelt sich das wider: Die Architektur erinnert ein bisschen an Wien, ein bisschen an Ungarn, ein bisschen an Jugoslawien. Gegenüber, auf der anderen Seite der Donau, thront die mächtige Festung von Petrovaradin.
Und überhaupt: die Donau! Beim Blick auf das schnell strömende Wasser kann ich mir vorstellen, ganz woanders zu sein: in Wien, in Rumänien, in Deutschland, in der Ukraine oder gleich am Schwarzen Meer. πάντα ῥεῖ – alles fließt!
Schnell weiter mit dem Falken
Am nächsten Tag fahren wir weiter nach Belgrad. Seit Kurzem ist die Strecke zwischen den beiden Städten – dank russischer und chinesischer Unterstützung – voll ausgebaut. Auch der Bahnhof von Novi Sad hat dadurch ein Upgrade erhalten: Wir finden nicht nur ein gemütliches Bahnhofscafé, sondern auch eine Impf-Kabine und einen eigenen Warteraum für Haustiere.
Dann geht’s los: Der Soko–Zug (Soko heißt Falke) überquert die neue Donaubrücke und fährt dann rasend schnell durch die weite Ebene. Nur 36 Minuten später haben wir die serbische Hauptstadt erreicht. Die Garnituren des Zuges sind dieselben wie die der österreichischen Westbahn, die Fahrt fühlt sich dadurch nicht anders an, als von Wien nach St. Pölten zu fahren. Hallo Europa!
Ambivalenz als Stadt
Dafür beginnt in Belgrad gleich beim Bahnhof eine andere Welt: Der neu gebaute Hauptbahnhof Beograd Center hat keine Rolltreppen, keine Gepäcksaufbewahrung, keine direkte Anbindung an die Innenstadt. Dafür darf das Personal ganz offiziell rauchen und sich so die Zeit in dem dunklen Schacht vertreiben. Wahrlich kein Aushängeschild für eine europäische Hauptstadt, aber so europäisch präsentiert sich Belgrad dann auch wieder nicht: Hier wehen russische Fahnen auf öffentlichen Gebäuden, im Park werden T-Shirts mit Putin-Motiv verkauft und Plakate werben für Gerechtigkeit für die Verbrecher des Jugoslawien-Kriegs. Mehr als nur befremdlich.
Allzu viel Zeit lässt uns Belgrad aber nicht zum Nachdenken: Straßenmusiker erzeugen mit ein, zwei Trompeten und einer Trommel einen unwiderstehlichen Sound; über dem Zusammenfluss von Donau und Save geht die Sonne unter und taucht die Stadt in Orange, Rosa und Lila. Magisches Belgrad! Mit sehr gemischten Gefühlen verlassen wir abends die Stadt wieder – und zwar mit dem Nachtzug nach Podgorica.
Die allerschönste Bahnstrecke
Um zwei oder drei Uhr morgens weckt uns ein Grenzbeamter: Granična kontrola! In Serbien werden die Pässe nicht nur angeschaut, sondern auch abgestempelt – fast schon ein Anachronismus im heutigen Europa. In der Früh stehen wir noch immer am Grenzbahnhof Prijepolje. Ein technischer Defekt, wir müssen in einen Bus umsteigen. Zugfahren ist eben nicht romantisch, sondern mühsam, lässt uns der Schaffner wissen.
Er sollte nicht Recht behalten: In Montenegro dürfen wir wieder in den Zug einsteigen und genießen die Fahrt durch die wilde, spektakuläre Berglandschaft. So gesehen gut, dass der Zug sieben Stunden Verspätung hat, sonst wären wir hier in der Nacht durchgefahren.
In Podgorica, der montenegrinischen Hauptstadt, fällt uns ein paar Schritte nach dem Bahnhof ein markanter Uhrturm, der Sahat Kula, auf. In den verwinkelten Gassen dahinter finden wir eine Moschee und ein Lokal, das türkischen Kaffee serviert. Dass Teile von Europa seit Jahrhunderten muslimisch geprägt sind, ist wenig bekannt – hier sind wir mittendrin. Wir bezahlen den Kaffee mit Euros und kaufen uns dann eine Fahrkarte für den Kleinbus nach Tirana.
Tirana, my love
Als ich vor über zehn Jahren das erste Mal in Albanien war, war das ehemals hochgradig isolierte Land noch geprägt von den abertausenden Bunkern, die der paranoide Diktator Enver Hoxha im ganzen Land errichten hat lassen. Mittlerweile sind die Bunker nicht mehr ganz so dominant im Landschaftsbild, stattdessen wird gebaut und gebaut – nur leider nicht an der Eisenbahn: Der Zugverkehr ist so stark eingeschränkt, dass er quasi nicht mehr existiert. Wie schade, vor allem in diesem landschaftlich so schönen Land! Erst kommen wir am Skadarsee vorbei, dann passieren wir eine fruchtbare Ebene, stets mit Blick auf die Berge im Osten.
Tirana ist dann die große Überraschung dieser Reise: Die Stadt ist chaotisch organisiert und äußerst lebendig. Der umgebaute Skanderbeg-Platz, der 2019 beinahe den Preis der EU für zeitgenössische Architektur gewonnen hat, ist das Herz der Stadt. Hier flanieren, posieren, hasten und rasten die Menschen, egal, um welche Uhrzeit. Es macht richtig Spaß, einfach nur auf dem Platz zu sein, Kaffee zu trinken und die warme Frühlingssonne zu genießen.
Außerdem bietet Tirana mit den verwinkelten Gassen, den großen Moscheen, den rauchenden Grills, den glänzenden Hochhäusern so viele Kontraste, dass uns ganz schwindlig wird. Und wohl nicht nur uns: Noch 1970 war der Uhrturm am Skanderbeg-Platz das höchste Gebäude Tiranas – heute ist es eines der kleineren.
Zum Glück gibt es auch einen großen Park mit Teich, wo wir uns ein bisschen von dem quirligen Stadtleben erholen können – und eine Seilbahn, die uns auf den örtlichen Hausberg Dajti bringt. Von dort aus können wir auf schneebedeckte Berge und auf das Mittelmeer schauen.
Am nächsten Tag besichtigen wir das Bunker-Museum, das in dem ehemaligen Regierungsbunker neben dem Innenministerium untergebracht ist. Nach zwei Stunden habe ich genug darüber erfahren, welche furchtbaren Dinge Menschen einander antun können. Das Ausmaß an Überwachung, Repression, Folter vor, während und nach der Hoxha-Diktatur lässt nicht nur an Europa, sondern gleich an der ganzen Menschheit zweifeln. Die Albaner*innen selbst scheinen aber keine Zweifel zu haben: Die Stimmung ist überall gut, die Menschen sind freundlich und zuvorkommend.
Im Gegensatz zu Serbien orientiert sich Albanien nicht nach Osten, sondern ganz offensichtlich nach Westeuropa. Die Menschen trinken Kaffee in Lokalen mit Namen wie Café Stockholm, Café de Paris oder Café Berlin. Wird das Land im europäischen Kontext auch kaum wahrgenommen, so zeigt Albanien trotzdem sehr deutlich, wohin es gehört.
Von Tirana nach Korfu
Weiter geht’s – das Ziel heißt ja Korfu und nicht Tirana. Albaniens „eisenbahnlose Wüste“, wie mein Vater sagen würde, zwingt uns dazu, die Strecke bis Saranda mit Bussen und einem Taxi zurückzulegen. In Vlora machen wir einen kurzen Zwischenhalt, wo wir den ehemaligen Bahnhof besichtigen: heute ein Lost Place, wo Kinder spielen und alte Männer im Schatten darauf warten, dass die Zeit vergeht. Wie traurig.
Einen weiteren Zwischenhalt müssen wir – nach der landschaftlich großartigen Strecke über den Llogara-Pass – in Himara einlegen, da an diesem Tag kein Bus mehr nach Saranda fährt. Wir sind also gestrandet – und das buchstäblich: In Himara übernachten wir nur wenige Meter vom Sandstrand entfernt.
Am nächsten Tag geht es dann endlich nach Saranda. Auffällig ist hier in Südalbanien, dass keine einzige Moschee zu sehen ist. Tatsächlich ist hier schon alles griechisch geprägt, Korfu ist in Sichtweite. In den isolierten Jahren der Diktatur muss es seltsam gewesen sein, hier zu leben. Leider können wir die Menschen darüber nicht befragen, da wir weder Albanisch noch Griechisch sprechen.
Ostern auf der grünen Insel
Eine Fähre sowjetischer Bauart bringt uns in weniger als einer Stunde von Saranda nach Kerkyra, der Hauptstadt von Korfu. Hier bekommen wir einen umgekehrten Kulturschock: War in Albanien vieles anders als gewohnt, geht es hier wieder ganz westeuropäisch zu. Das liegt auch daran, dass die Altstadt vor Tourist*innen fast schon übergeht, obwohl erst Nebensaison ist. Anscheinend ist Ostern auf Korfu nicht nur für Abenteurer*innen wie uns interessant. Ein Souvenirshop reiht sich an das nächste, Verständigungsprobleme haben wir keine und die lokale Blasmusikkapelle klingt auch recht vertraut. Über allem flattert die Fahne der Europäischen Union.
Schönes Korfu! Die Insel ist sehr grün, wie wir bei einem Ausflug zum Strandort Παλαιοκαστρίτσα (Paleokastritsa) sehen, und sehr geschichtsträchtig. Hier soll schon Odysseus unterwegs gewesen sein. Ob er wohl im Frühling hier war, so wie wir? In einem kleinen Kloster hoch über den Buchten von Paleokastritsa lässt es sich, umgeben von Blumen und Katzen, herrlich in die Weite schauen. Auch die österreichische Kaiserin Sissi hat Korfu sehr geschätzt, Prince Philip wurde hier geboren. Korfu, weit weg von der Welt und doch mittendrin!
Mit der Fähre nach Italien
Um in Helmuts strengem Zeitplan zu bleiben, müssen wir Korfu leider schon bald wieder verlassen. Mit der Fähre setzen wir über nach Ηγουμενίτσα (Igoumenitsa), wo wir in der nicht besonders einladenden Hafenumgebung ein paar Stunden auf die Fähre nach Bari warten. Nach einer gemütlich schaukelnden Nacht bleiben uns ein paar Stunden Zeit, um die Hauptstadt Apuliens kennenzulernen. Ich finde mich bald zurecht: Bari sieht aus wie in einem frisch gedruckten Bildband über Italien.
Schon eigenartig, wie vertraut uns Italien oder auch Griechenland erscheinen, während Serbien, Montenegro und Albanien einen gewissen Exotik-Faktor haben. So müssen wir am Ende dieser Reise unser eigenes Bild von Europa hinterfragen.
Von Bari sind wir in wenigen Stunden in Rom. Wie schön, wieder mit einem Zug unterwegs zu sein! Von Rom aus bringt uns ein Nachtzug über die Alpen zurück nach Hause. Hallo Wien – und bis bald, Europa!
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Viele weitere Eindrücke dieser Reise findest du auf Twitter unter #OsterrundeXXII.
Reiselektüre
Auf Empfehlung eines Freundes lese ich während der Reise den Debütroman der ukrainisch-polnischen Schriftstellerin Żanna Słoniowska, „Das Licht der Frauen“. Die poetischen Beschreibungen von Lemberg/L’viv passen perfekt zu den schaukelnden Bewegungen des Nachtzugs. Hoffentlich veröffentlicht sie bald ihren nächsten Roman!
Und nun?
Abenteuerreise oder Charterflug – was ist dir lieber? Welche Gedanken machst du dir auf und über Reisen? Ich freue mich, wenn du einen Kommentar hinterlässt!
1 Kommentare
Auf dieser Reise bin ich Euch sehr gerne und mit vielen Erinnerungen gefolgt!
Ich war vor etwa 7 Jahren auf diesen Strecken unterwegs, inklusive Fähre nach Italien zum Abschluss. (Ich wohnte damals in Bari.) In Belgrad gab es noch den schönen alten Bahnhof, aber in Tirana war der Bahnhof nur mehr eine Ruine. Ich wusste das vorher nicht und hatte einen alten Reiseführer, anhand dessen ich einem Paar, das mit mir im Bus aus Mazedonien saß, begeistert den Weg zum Bahnhof erklärte und wann welche Züge gingen.
Aber die Zugfahrt durch Montenegro ist wirklich fantastisch!
https://andreas-moser.blog/2015/01/11/mit-dem-zug-durch-montenegro/
Durch deinen Artikel wird einem bewusst, wieviel man verpassen würde, wenn man flöge.