Mit Vollgas am Stadtwanderweg 11

von Stadtstreunerin | Eva

Alle 14 Stadtwanderwege in Wien abklappern – eine einfache Sache, wenn man gerne wandert? Nein! Die äußeren Umstände verhindern es. Einmal ist es eine schmerzhafte Entzündung in der Hüfte, ein anderes Mal ein wichtiges Seminar, dann passt wieder das Wetter nicht. Kurz gesagt: Ich trage keinerlei Schuld daran, dass mein Stadtwanderweg-Projekt – begonnen im fernen Jahr 2017 mit dem Stadtwanderweg 7 – noch immer nicht abgeschlossen ist. Außerdem hat sich die Stadt Wien mit dem „urbanen Gemeindebau-Wanderweg“, der die Nummer 11 trägt, eine besondere Schikane für mich ausgedacht: Die Strecke führt durch dicht verbautes Gebiet und kann wohl kaum als Wanderung gelten. 

Aber genug der schlecht getarnten Ausreden! An einem sonnigen Tag Mitte Mai überwinde ich mich (stets die versprochene Platin-Wandernadel vor Augen, die ich mir dereinst im Rathaus abholen werde – wehe, es gibt sie dann nicht mehr!) und mache mich auf den Weg zum Margaretengürtel, wo der Weg beginnt.

Im Licht der Realität 

Die Strecke verspricht das Passieren von zahlreichen spektakulären Wiener Wohnbauten entlang des Gürtels, der deswegen auch „Ringstraße des Proletariats“ genannt wird. In den Gemeindebauten des Roten Wien aus den 1920er Jahren sind aber nicht nur Menschen zu Hause: 

Der Wiener Gemeindebau ist das größte geschützte soziale Wohn-Habitat des gesamten europäischen Raumes und besticht durch eine atemberaubende Flora und Fauna, die Sie auf dieser Wanderroute hautnah erleben können.

Atemberaubend ist allerdings eher der Verkehr, der schon beim Verlassen der U-Bahn-Station meine Sinne in aufdringlicher Weise belästigt. Hier, am Margaretengürtel, verläuft eine mehrspurige Straße, die zu den am stärksten befahrenen Straßen in Wien zählt. Ich wandere also zwischen Feinstaub, Mikroplastik, Lärm und Abgasen. (Mittendrin, wie zum Hohn, steht eine Tankstellen-Kunstinstallation.) Sollte ein Stadtwanderweg nicht die Gesundheit fördern, anstatt sie zu gefährden? 

Eine bittere Ironie der Geschichte: Jene Wohnbauten, auf die man seinerzeit zu Recht stolz war – endlich Wasser, Licht und Luft für alle! -, stehen heute mittendrin im nie abreißenden Strom der Autos. Wer hier lebt, ist meistens finanziell nicht besonders gut aufgestellt, was mit einem deutlich höheren Risiko für Krankheiten einhergeht. Die vielen Autos verschärfen dieses Problem noch. Ein Teufelskreis, erzeugt und aufrechterhalten von der Autostadt Wien.

© Lärminfo.at

Ab ins Grüne!

Aber genug geschimpft! Tatsächlich hat der Stadtwanderweg 11 nicht nur Kraftfahrzeuge zu bieten: Ich passiere auf der Strecke etliche Parks und Grünstreifen. Gleich zu Beginn umschwirrt mich eine Libelle, ich treffe auf Spatzen, Tauben und Meisen. In einem kleinen umzäunten Bereich wächst gerade ein neuer Stadt-Urwald heran – ein sogenanntes Wiener Wäldchen. Noch hübscher ist der Blick in die Innenhöfe der zahlreichen Gemeindebauten: Hier streife ich über gänseblümchengetupfte Wiesen und kann mich im Schatten alter Bäume ausruhen. Die Bewohner:innen sorgen mit Pfingstrosen, Orchideen und vielen weiteren Kulturpflanzen für zusätzliche Farbtupfer. Ich bin überrascht, wie ruhig und entspannt es hier zugeht.

Gemeinsam im Gemeindebau

Obwohl ich mehrere Male skeptisch angeblickt werde – offenbar spazieren hier nicht alle Tage Stadtstreunerinnen mit großen Kameras herum -, bin ich angetan von dem gemütlichen Leben hinter den dicken Mauern. Ich bin natürlich nicht das erste Mal hier unterwegs, aber ich habe die Atmosphäre der Gemeindebauten noch nie so bewusst auf mich wirken lassen wie bei dieser „Wanderung“. Jugendliche hängen gelangweilt im Hof herum, Ältere plaudern auf den Bänken, im Hintergrund plätschert ein Brunnen. Im Park ein paar Straßen weiter spielen Eltern mit ihren Kindern, und ich kann eine (für mich recht amüsante) Szene aus der Reihe „Bis einer weint“ beobachten. Abseits des Gürtels ist es hier beinahe idyllisch. Und als ich nach dem Matzleinsdorferplatz in den 10. Bezirk hinüberwechsle, bin ich die furchtbare Straße endgültig los. 

Nachdem ich davor den ältesten Wiener Gemeindebau inspiziert habe – den Metzleinstaler Hof -, entdecke ich hier einen der neuesten. Erst 2024 eröffnet, ist er nach dem charismatischen Musiker Willi Resetarits benannt. Er, der selbst aus einer burgenlandkroatischen Familie stammte, hat sich stets für Minderheiten und Ausgegrenzte starkgemacht. Ein würdiger Name also für einen Bau, der eine zutiefst soziale und menschenfreundliche Tradition des Wohnens fortschreibt.

Wohnen oder nicht wohnen

Das Thema Wohnen begleitet mich auch auf der (erneut stark befahrenen) Laxenburger Straße. Bevor ich zur letzten Gemeindebau-Station komme, dem Zürcher Hof, spaziere ich hier an einem Haus für wohnungslose Frauen und Familien vorbei. Ich denke daran, dass in Wien nicht alles so perfekt ist, wie es sein könnte. (Nachdem ich ein Jahr lang in der Wohnungslosenhilfe gearbeitet habe, weiß ich aus erster Hand, wie sehr es an Personal, Geld und Platz mangelt.) Aber insgesamt leben wir doch in einer Stadt, für die „Menschenwürde“ nicht nur eine hohle Phrase ist.

Etwas ergriffen nach all diesen Eindrücken würde ich mich am Ende des Stadtwanderwegs 11 gerne noch bei dem berühmten Eissalon Tichy am Reumannplatz anstellen. Aber all der Lärm und der Staub haben mich so geschlaucht, dass ich mich sofort in die U-Bahn setze und schnurstracks nach Hause fahre. Bis zum nächsten Mal!

Endlich geschafft!


Wanderfazit

Weg: U4 Margaretengürtel – Bruno-Kreisky-Park – entlang des Margareten- und Gaudenzdorfer Gürtels zu den Stationen Haydnhof, Leopoldine-Glöckel-Hof, Reumannhof/Metzleinstalerhof, Herweghhof/Julius-Popp-Hof, Theodor-Körner-Hof und Julius-Ofner-Hof – Landgutgasse – Laxenburger Straße mit Zürcher Hof – Erlachgasse – Favoritenstraße – U1 Reumannplatz 

Strecke: 4 Kilometer

Zeit: Ich war mit Pausen, Umwegen und Besichtigung der Gemeindebauten fast vier Stunden unterwegs.

Einkehr: Ich habe mich im Gasthaus Zur singenden Wirtin gestärkt, das sich in der Flurschützgasse, ein paar hundert Meter von dem Stadtwanderweg entfernt, befindet. Eine ur-wienerische Oase.  

Stadtstreunen-Tipp: Wer sich im Detail für die Architektur der Gemeindebauten interessiert, wird mit den wenigen, schwer auffindbaren Infotafeln des Stadtwanderwegs nicht glücklich werden. Stattdessen sei diese Seite hier empfohlen: https://www.dasrotewien.at/spaziergaenge

Aktivismus: Mit der Initiative Gürtel Liebe setzen sich Anrainer:innen für bessere Luft, weniger Lärm und mehr Platz fürs Zu-Fuß-Gehen und Radfahren ein. Mitmachen geht hier: https://guertelliebe.at/

Urteil: Stadtwandern geht definitiv besser!

Zum Weiterlesen

Hier findest du Berichte von den Stadtwanderwegen, die ich schon gegangen bin:

Stadtwanderweg 1 – Kahlenberg (2023)

Stadtwanderweg 1a – Leopoldsberg (2023) 

Stadtwanderweg 2 – Hermannskogel (2021)

Stadtwanderweg 3 – Hameau (2022)

Stadtwanderweg 4 – Jubiläumswarte (2017)

Stadtwanderweg 4a – Ottakring (2021) 

Stadtwanderweg 5 – Bisamberg (2021)

Stadtwanderweg 6 – Zugberg-Maurer Wald (2022)

Stadtwanderweg 7 – Laaer Berg (2017)

Stadtwanderweg 8 – Sophienalpe (2021)

Stadtwanderweg 9 – Prater (2017)

Stadtwanderweg 10 – Breitenlee (2024)

Auch den Wanderweg rund um Wien bin ich schon gegangen:

Rundumadum – Rund um Wien (2020)

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