In den Mädchenzeitschriften meiner Kindheit waren öfters weiße Pferde abgebildet, die einen Strand entlang trabten. Ein Sehnsuchtsbild… aber nicht für mich. Bis ich zufällig entdecke, dass die Heimat der weißen Pferde – die Camargue in Südfrankreich – auch eine große, wildlebende Flamingo-Population beherbergt. Für Flamingos bin ich sofort zu haben! Die Osterferien im April 2025 bieten sich ideal für eine Expedition an. Rund um die hellrosa Attraktion planen Helmut und ich eine Reise durch das südliche Frankreich mit Halten in Lyon, Saintes-Maries-de-la-Mer und Marseille. On y va!
Lyon: Von Seide bis Beton
Ein direkter Nachtzug von Wien nach Lyon würde sich auf den Fahrplänen von ÖBB und SNCF gut machen, aber leider – rien. So fahren wir mit dem Nachtzug erst nach Bregenz und tingeln dann via Zürich, Bern und Genf quer durch die Schweiz weiter. Auf einmal lassen wir die Berge hinter uns: Wir haben das Ende der Alpen erreicht und somit den gesamten Alpenbogen durchquert, der sich von Wien bis hierher zieht. Andere gehen die Strecke zu Fuß; mit dem Zug ist es dagegen eine leichte Übung.
Wir haben zwei Tage, um die Stadt am Zusammenfluss von Rhône und Saône kennenzulernen, und ich sammle allen kulinarischen Mut dafür zusammen: In den traditionellen Bouchons von Lyon wird eine deftige Küche serviert, in der alles, wirklich alles auf den Teller kommt. Zu den angebotenen Spezialitäten zählen Andouillette (Wurst aus Innereien), Cuisses de Grenouilles (Froschschenkel), Foie gras (Gänsestopfleber), Cervelle de canut (Gehirn der Seidenweber). Als Vegetarierin habe ich hier eine harte Zeit. Immerhin: Das Seidenweber-Gehirn besteht aus Frischkäse und Kräutern – und verweist auf einen jahrhundertealten Wirtschaftszweig in Lyon: die Herstellung von Seide aus den Spinnfäden der Seidenraupen.
Die kostbaren Tücher bewundern wir mangels finanzieller Mittel nur in den Vitrinen der feinen Seidengeschäfte; ein Spaziergang durch das ehemalige Seidenweber-Quartier Croix-Rousse ist aber natürlich drinnen. Die Häuser auf dem steilen Hügel haben eines gemeinsam: große Fenster, die genug Licht durchlassen, um die einzelnen Fäden gut erkennen zu können. Die Arbeits- und Lebensbedingungen waren trotzdem mehr als bescheiden, denn die hohen Räume gehörten den Webstühlen und nicht den Familien der Seidenweber. So haben hier ab 1831 mehrere Arbeiter:innen-Aufstände ihren Anfang genommen, die blutig niedergeschlagen wurden; sie gehören zu den ersten Revolten im Zeitalter der Industriellen Revolution.
Es regnet ausdauernd an diesem Nachmittag, aber zahlreiche Wandmalereien lassen die Gassen des Viertels dennoch farbenfroh erscheinen. Außerdem: „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“ – Ein Zitat des gebürtigen Lyoners Antoine de Saint-Exupéry darf natürlich nicht fehlen. Der ikonische kleine Prinz und sein Fuchs sind in jedem Souvenirgeschäft vertreten. Leider kommen wir nicht an der Straße vorbei, in der das Geburtshaus des Piloten und Schriftstellers steht – Lyon ist einfach zu groß. Im Parc de la Tête d’Or, einem der größten Stadtparks Frankreichs, gibt es zwar keine Füchse, aber Eidechsen, Elstern, Dammhirsche – und (in dem kleinen Zoo des Parks) die ersten Flamingos!
Bevor es aber südwärts zu den „echten“ Flamingos geht, machen wir noch einen Ausflug zu dem weltberühmten Kloster Sainte-Marie de La Tourette, das von Lyon gut per Straßenbahn erreichbar ist. Statt Flamingorosa dominiert hier Grau: Das Kloster besteht hauptsächlich aus Beton. Mitten in die hügelig-idyllische Landschaft hat der brutalistische Architekt Le Corbusier einen Betonklotz hingestellt, der seinesgleichen sucht: von beeindruckenden Dimensionen und voller durchdachter Details. „Le Corbu TI AMO“, hat jemand mit Kreide auf eine der Stelen geschrieben. Ansonsten mangelt es hier an Zeichen der Zivilisation. Obwohl hier noch acht Mönche leben, fühlt sich das Kloster wie fast ein Lost Place an.
Camargue: Ein Herz für Flamingos
Drei Stunden Zugfahrt von Lyon entfernt, steigen wir in Arles in den Bus nach Saintes-Maries-de-la-Mer ein – mit knapp 2.300 Einwohner:innen die „Hauptstadt“ der Camargue. Im Bahnhofskiosk von Arles gibt es Plüsch-Flamingos zu kaufen. Wir kommen der Sache näher! Womit ich aber nicht gerechnet hätte: dass wir wirklich vom Bus aus die ersten Flamingos in freier Wildbahn sehen werden. Hier, im ausgedehnten Rhône-Delta, reihen sich Teiche, Lacken und Sümpfe aneinander: die ideale Heimat für die Flamantes Roses, die kaum zu übersehen sind. Da sie sich auf ihren staksigen Beinen schlecht wehren können, hat die Evolution eine andere Strategie zum Schutz entwickelt: Sie bilden kleinere und größere pinke Inseln in unzugänglichen Wasserflächen und können dort nach Herzenslust herumkrächzen und miteinander streiten. Ein ganz schön lautes Naturschauspiel!
Die Camargue ist auch die Wahlheimat schwarzer Stiere, die zusammen mit den Flamingos und den weißen Pferden eine semi-heilige Dreifaltigkeit bilden, die offenbar ähnlich viel Glück bringt wie das Symbol „Herz der Camargue“. Man kommt daran nicht vorbei, jedes zweite Haus ist mit Flamingos, Stieren, Pferden oder Herzen geschmückt. Auf den Stränden traben Pferde, auf den Straßen warnen Schilder vor Stieren: „Attention, manifestation taurine.“ Mehrmals im Jahr finden in der örtlichen Arena Stierkämpfe statt, die im Gegensatz zur spanischen Tradition unblutig verlaufen. Trotzdem bin ich froh, als wir auf der Rückfahrt in Arles zumindest eine kleine Gruppe sehen, die dagegen protestiert.
Noch eine Besonderheit weist Saintes-Maries-de-la-Mer auf: Unser bescheidener Ferienort am Mittelmeer ist ein internationaler Wallfahrtsort und insbesondere bei Roma und Sinti beliebt. (Die zweisprachige Ortstafel ist aber kein Ausdruck davon; bei der zweiten Sprache handelt es sich um Provenzalisch.) Die beiden namensgebenden Marias, die von hier aus die Camargue christianisiert haben, wurden von Sara, ihrer Dienerin ägyptischer Abstammung begleitet. In einer Zeit, als man noch dachte, dass die Volksgruppe(n) der Roma aus Ägypten ausgewandert sind (tatsächlich geht ihre Herkunft auf Indien zurück), wurde die sogenannte „schwarze Sara“ (Sara-La-Kâli) zu ihrer Schutzheiligen auserkoren. Die traditionelle Wallfahrt Ende Mai ist sicherlich sehenswert! Dank groß angelegter Camping-Anlagen kommt Saintes-Maries-de-la-Mer sympathischerweise ohne hässliche Hotelblöcke aus. In der Hoffnung, dass dieser Ort mit seinen weitgehend naturbelassenen Stränden noch lange so bleibt, brechen wir unsere (Hotel-)Zelte ab und reisen weiter nach Marseille.
Marseille: Immer mehr am Meer
Auf die zweitgrößte französische Stadt bin ich schon mehr als gespannt. Wer die Metropole am Mittelmeer im Internet sucht, landet schnell bei dem Stichwort „mediterranes Flair“, aber auch bei „Gefahr“. Was ist dran an Marseille? Die Hafenstadt schert sich jedenfalls nicht darum, gleich einen guten Eindruck zu machen. Am Weg vom Bahnhof Saint Charles in unser Quartier stapfen wir durch Müll, ein Typ läuft uns nach und lässt erst von uns ab, als drei ältere Damen ihn sichtlich genervt beschwichtigen. Eine Mutter sitzt mit ihren zwei Kleinkindern auf einer dreckigen Decke auf der Straße und bettelt – ein erbärmlicher Anblick. Dann, einen Platz und ein paar Stiegen weiter, tauchen wir in das idyllische, pastellfarbene Altstadtviertel Le Panier ein. Hier sitzen fesche Leute bei einem Spritzer und genießen das Abendlicht, das mild in die Gassen fällt.
Wie sich herausstellt, sind diese Kontraste Programm: Marseille wechselt alle paar Straßenzüge sein Gesicht. Am alten Hafen, dem Vieux Port, herrscht massenhafter Andrang von Touris aus aller Welt, um kurz danach in ein verkehrsberuhigtes Viertel mit Geschäften internationaler Marken überzugehen. Zehn Minuten weiter bergauf finden wir uns auf einem berlinesk-bunten Stadtplatz wieder. Dazwischen gibt es einen Boulevard, auf dem sich ein türkisches Restaurant nach dem anderen reiht, und wenige Meter weiter wird alles maghrebinisch. Wir essen hier palästinensisch, algerisch, italienisch-afrikanisch und libanesisch. Vergessen sind die kulinarischen Zumutungen aus Lyon!
Marseille ist anstrengend wie kaum eine andere Stadt, befinde ich: Das ständige Ein- und wieder Auftauchen in die wechselnden Szenarien lässt mich die Stadt als unruhig und unentspannt erleben. Noch dazu kratzt und beißt mich ständig irgendwas: die Luft, die Sonne? Es fühlt sich an, als wäre ich auf Marseille allergisch. (Paradox: Ist etwa das mediterrane Flair die Gefahr?) Eine Freundin antwortet auf die Reiseeindrücke, die ich ihr per SMS zukommen lasse: „Ich glaube, ich will nie nach Marseille.“
Abhilfe schafft mal wieder ein Besuch bei Le Corbusier: Seine gewaltige „Wohnmaschine“, die Unité d’Habitation, liegt etwas außerhalb der Altstadt und lässt uns ein wenig durchschnaufen. In den großen Platanen rund um den kolossalen Bau aus den frühen 1950er Jahren leben laut schnatternde, knallgrüne Halsbandsittiche, und vom Dach aus betrachten wir Marseille von oben. Im gebirgigen Hinterland ist die Stadt von Plattenbauten geprägt, die erneut kontrastreich sind: Der Wohnkomplex La Rouvière erinnert an eine Gated Community der weißen Mittelschicht, während die Bauten in den nördlichen Vierteln jene sind, die im Zusammenhang mit dem Stichwort „Gefahr“ häufig erwähnt werden.
Zuletzt noch zum Meer! Abgesehen von dem Alten Hafen ist Marseille gar nicht so sehr an der blauen Pracht orientiert. Das holen wir im Mucem nach: Das Musée des Civilisations de l’Europe et de la Méditerranée, ein Bau, den die Stadt anlässlich des Kulturhauptstadtjahres 2013 errichtet hat, liegt direkt zwischen Altstadt und Meer. Von hier aus bewundern wir die gewagte Architektur, die gleichermaßen Schatten spendet wie neue Perspektiven ermöglicht, und erkunden die stolze Festung von Marseille.
Neben der nahen Kathedrale ist auch die berühmte Kirche Notre-Dame de la Garde von hier aus bestens zu sehen. Hoch oben auf einem Hügel über Marseille thront die markante schwarz-weiß gestreifte Kirche, in der viele Generationen ihr letztes Gebet auf „der Erde, die ihre Geburt gesehen hat“ (das Pathos ist direkt aus dem Französischen übersetzt) gemurmelt haben, bevor sie in See gestochen sind. Beruhigend zu wissen, dass es auf der anderen Seite des Meeres, in Algier, mit der Basilika Notre-Dame d’Afrique die Möglichkeit gibt, das Gebet fortzusetzen. Vielleicht können auch wir eines Tages die komplizierten algerisch-französischen Beziehungen weiter erkunden – in diesem Fall wäre Marseille der Beginn und nicht das Ende der Reise: Von hier aus fahren Fähren in weniger als 24 Stunden nach Algier.
Fürs Erste ruft uns aber der Alltag nach Wien zurück: In einer nervenaufreibenden Odyssee – von Marseille aus gibt es kaum direkte Fernzüge ins Ausland – fahren wir über Nizza und Ventimiglia (mit einem ungeplanten Zwischenstopp in Menton) nach Genua, wo wir in den Nachtzug nach Wien einsteigen. Die Reise endet also so, wie sie begonnen hat: mit einer Nachtzugfahrt. Bonne nuit et au revoir!
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Stadtstreunen-Tipps: Wer die Zahnradbahn in Lyon sucht, wird bei der Metrolinie C fündig. Auch die Straßenbahn ist sehenswert: Ihr weißes Design erinnert nicht zufällig an Seidenraupen. Das Kloster La Tourette bietet spartanische Unterkünfte um etwa 80 Euro pro Nacht; die Unité d’Habitation in Marseille verfügt über ein eigenes Hotel. Der Parc ornithologique in der Camargue ist ein echtes Highlight. Im Mucem gibt es eine gut sortierte Buchhandlung und feine Souvenirs. In Marseille: Ausschau halten nach dem Invader!
Souvenirs: Neben Plüsch-Flamingos und Seidentüchern gibt es in Südfrankreich auch noch viele andere lohnende Mitbringsel: Seifen, Lavendel, Wein, Rosen, Reis werden hier seit Jahrhunderten erzeugt bzw. angebaut.
Sprache: Grundsätzlich kommt man mit Englisch ganz gut durch, ein paar französische Grundkenntnisse können aber nicht schaden. Viele Aufschriften sind nur auf Französisch. Meine Beobachtung: Das Bemühen um die halbwegs korrekte Aussprache der irgendwann einmal gelernten Phrasen („Je voudrais un café“) wird durchwegs wertgeschätzt.
Sicherheit: Das Einhalten der üblichen Vorkehrungen hat für mein Sicherheitsgefühl vollkommen ausgereicht (Wertsachen nah bei sich tragen, abends nicht alleine durch finstere Gassen schleichen, gegebenenfalls die Kamera im Rucksack lassen). Man merkt allerdings, dass die französischen Behörden verstärkt gegen Terroranschläge vorgehen. Unser ungewollter Aufenthalt in Menton war einem verlassenen Rucksack geschuldet; die Strecke wurde eine Stunde lang gesperrt.
Lektüre: Antoine de Saint-Exupéry: „Der kleine Prinz“. Fatima Daas: „Die jüngste Tochter“. Assia Djebar: „Die Frauen von Algier“.
Serie: In der Mini-Serie „Marseille mon amour“ ist im Hintergrund mehrmals die Unité d’Habitation zu sehen.
Warst du, liebe Leserin, lieber Leser, schon einmal in Südfrankreich? Wie hat es dir gefallen? Hinterlasse gerne einen Kommentar mit deinen Erlebnissen oder schreibe mir eine Mail an eva [at] stadtstreunen.at.

Flamingos für Zuhause!