Die allerkleinste Stadt: Rattenberg in Tirol

von Stadtstreunerin | Eva

„Spieglein, Spieglein an der Wand, welche Stadt ist die kleinste im ganzen Land?“ Die Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten – märchenhafte Fähigkeiten sind gefragt! Ich dachte lange, es sei Hardegg im Waldviertel: In der malerisch im Thayatal gelegenen Stadt leben gerade einmal 86 Menschen – aber nur, wenn man die eingemeindeten Orte nicht mitzählt, dann sind es 1.304 Einwohner:innen auf über 93 Quadratkilometern. Die Rekordhalterin in Sachen Winzigkeit liegt deswegen nicht an der Thaya, sondern am Inn: Rattenberg in Tirol ist mit einer Fläche von 0,11 Quadratkilometern und mit 434 Einwohner:innen die in zweifacher Hinsicht kleinste Stadtgemeinde Österreichs. (Es gibt gar keine eingemeindeten Orte.) 

Zahlen hin oder her, ein lohnenswertes Ziel stellen jedenfalls beide Städte dar. Wobei Hardegg etwas mehr Magie bewahren konnte: Rattenberg liegt zwar ebenfalls sehr malerisch zwischen dem Inn und steilen Felsen, bekommt aber den ganzen Lärm des Inntals ab. Einen Vorteil hat das aber: Neben der Autobahn und der Schnellstraße verläuft hier auch die Bahnstrecke und ich kann nur wenige Meter von der Altstadt entfernt aus dem Zug steigen. 

Auf nach Rattenberg!

Die Allerkleinste

An dem Jännertag, als ich Rattenberg besuche, finde ich eine verlassene Stadt vor. Der Adventzauber ist vorbei, der Winter macht eine Pause (Klimawandel *räusper*) und es regnet.  Ein bisschen düster-deprimierend ist die Stimmung, aber dafür habe ich die herausgeputzten Plätze und die Promenade am Inn fast für mich alleine. Die beiden Museen sind geschlossen, nur im einzigen offenen (und einladenden Lokal) ist etwas mehr los. Typisch Winter! 

Nicht viel los…

…alles geschlossen…

…aber sehr hübsch!

Rattenberg sieht in der warmen Jahreszeit sicher anders aus, heller und freundlicher. Trotzdem eignet sich der ungemütliche Wintertag perfekt für einen Spaziergang durch die Stadt: Da die Stadt so klein ist, erlange ich rasch einen Überblick und muss nicht frierend herumstreunen.

Ein zweiter Durchgang mit Blick für die Details offenbart gewisse Ähnlichkeiten mit anderen Städten – aber nicht mit Hardegg! Die locker besiedelte Kleinststadt an der Thaya wirkt gegen das dicht verbaute Rattenberg eher wie ein großes Dorf mit Burg. Stattdessen erinnern mich die Regenrinnen auf den Häusern an Danzig und die zahlreichen Souvenirgeschäfte mit allerhand Glasfiguren an Venedig

Alles klar?

Regenrinnen wie in Danzig

Souvenirgeschäfte wie in Venedig

Glasstadt Rattenberg

Rattenberg ist, ähnlich wie die Laguneninsel Murano in Venedig, bekannt für seine Glaskunst: Auf dem langgestreckten Hauptplatz finde ich viele Geschäfte und Werkstätten, die zierliche Glasfiguren ebenso anbieten wie waghalsige Vasen und wuchtige Geschirrsets aus Bleikristall. Die wenigen Straßen und Gassen der Stadt sind mit originellen Statuen und Skulpturen geschmückt. Zwar ist diesmal keine von Vicke Lindstrand wie in Umeå oder Stuttgart dabei, aber mit einem grünen Chamäleon bin ich auch zufrieden!

Angesichts der verwaisten Plätze frage ich mich: Leben hier womöglich mehr gläserne Wesen als Menschen? (Ratten sind übrigens keine zu sehen – der Name der Stadt leitet sich nicht von Ratten ab, sondern wahrscheinlich von einem Personennamen.) 

Das Chamäleon von Rattenberg

Eulen sind interessiert

Unidentifizierte Glasobjekte

Hat da jemand „Kitsch“ gesagt?

Von der Sichel zum Heilstein

Tirol ist bekanntlich ein sehr religiöses Land, und das spiegelt sich auch in Rattenberg wider: Hier wurde um das Jahr 1265 die Heilige Notburga geboren, die ich schon in Hermagor kennengelernt habe. Der Schutzpatronin der Landwirtschaft und der Dienstmägde – ihr Attribut ist die Sichel – ist eine eigene Kapelle in der großen Kirche gewidmet, die in dieser winzigen Stadt völlig überdimensioniert erscheint.

Die interessante Lebensgeschichte der Notburga bringt mich dazu, über die Rolle von Religion und Spiritualität in unserer Gesellschaft nachzudenken. Heiligenbildchen sind heutzutage abseits der Kirchen weniger gefragt, in den Rattenberger Geschäften werden dafür – neben Glas natürlich – gesegnete Halbedelsteine und andere esoterische Heilsversprechungen verkauft. Da wären wir wieder bei den märchenhaften Fähigkeiten!

Eine echte Tirolerin: die Heilige Notburga

Christbaumschmuck

Die Umgebung von Rattenberg

Ein Spaziergang zu einer Kapelle mitten im Wald und der verwunschenen Ruine oberhalb der Stadt rundet meinen Besuch in Rattenberg ab. Hier erhalte ich wieder einen guten Überblick: nicht nur über Rattenberg selbst, sondern auch über die unmittelbare Umgebung. Wie schon der Name des Bahnhofs – Rattenberg-Kramsach – andeutet, liegt Kramsach nicht weit weg. Im Gegenteil: Wäre da nicht der selbst an diesem trüben Tag noch türkise Inn als Trennlinie, könnte man die beiden Gemeinden für eine halten. Dass Rattenberg die allerkleinste Stadt ist und bleibt, ist also keine Märchengeschichte, sondern eine profane politische Entscheidung. 

Eine Kapelle im Wald

Rattenberg mit Inn

Blick über das laute Inntal

Blick auf eine weitere Ruine (nicht zugänglich)

Dann wird es Zeit für den Heimweg: mit vielen Erkenntnissen und Eindrücken im Gepäck. Gewichtig, aber glücklicherweise doch leichter als so manche Glasskulptur…

Pfiat di, Rattenberg, bis bald! 

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