„Wo macht ihr heuer Urlaub?“ – „Am Nordpol!“
Zugegeben, dieses Sprachspiel sorgt hauptsächlich für Verwirrung. Aber es ist einfach zu lustig, Nordpolen als Nordpol abzukürzen! Außerdem: Urlaub an der polnischen Ostseeküste zu machen, ist aus mitteleuropäischer Sicht fast so gewagt wie eine Expedition in die Arktis. Vor der Reise bekommen Helmut und ich denn auch einige Warnungen zu hören: „In Łeba geht’s richtig trashig zu, wie auf Mallorca.“ Nur deutlich kühler. Und das Versprechen auf frische Temperaturen ist es letztlich auch, das uns im unerträglich heißen Wiener Sommer hinaufzieht an die Ostseeküste.
Expedition mit Nachtzug
Von Wien fahren wir nach Bohumín und steigen dort in den direkten Nachtzug nach Łeba ein, der nur in den Sommermonaten verkehrt. Als ich am nächsten Morgen durchgerüttelt aufwache, ist es frisch und regnerisch. Die erste Erwartung ist schon mal erfüllt! Aber es wäre nicht die Ostsee, wenn es bei Regen bliebe. Auf dem weiten Himmel, der sich über Land und Meer spannt, ist immer viel Wetter auf einmal: Sonne, Wolken, Regenschauer und Gewitter wechseln sich rasch ab. Die Urlaubsgäste – vor allem polnische Familien – passen sich so schnell daran an, dass wir gar nicht mitkommen.
In dem kleinen Ort Łeba finden wir dann tatsächlich vieles, was sich in die Kategorie „Trash“ einordnen ließe: ein Haus, das auf dem Kopf steht, ein 9D-Kino (??), ein Wachsfigurenkabinett, ein Ozeanarium, Spielhallen und noch einiges mehr. Die meisten Attraktionen haben aber so schlechte Online-Bewertungen („absolut nicht empfehlenswert“), dass wir unser Geld lieber anderweitig investieren: in das polnische Essen zum Beispiel, das lohnt sich immer.
In Kaszëbë
In einer der Karczmas entdecken wir auf der Speisekarte kaschubische Spezialitäten: ein Hinweis darauf, dass wir uns in der Region Kaschubien/Kaszëbë befinden, genauer gesagt in ihrer nordwestlichsten Ecke. Ich erinnere mich an viel früher, als ich bei der Jugend Europäischer Volksgruppen aktiv war: Damals habe ich erstmals die schwarz-gelbe Fahne gesehen und das Kaschubische gehört, eine westslawische Sprache, die immerhin noch von rund 100.000 Menschen gesprochen und von vielen mehr verstanden wird. Łeba ist aber nicht gerade ein kaschubisches Aushängeschild, für mehr als ein paar Speisen und Souvenirs reicht die Identifizierung mit dieser Region nicht; das ist zumindest mein Eindruck. Wie so oft finde ich es auch hier schade, dass sich Europa nicht deutlicher zu seiner historisch gewachsenen Sprachenvielfalt bekennt.
Ein Land aus Sand
Eine weitere Investition, die sich auszahlt, ist die Leihgebühr für Fahrräder. Łeba ist umgeben von schönster, teils völlig unberührter Landschaft: Wiesen, Seen, Sümpfe, Wälder, Strände und natürlich Meer. Bald nach dem Ortsende beginnt der Słowiński Park Narodowy, der Slowinzische Nationalpark. (Ein Fall für das Nationalparkprojekt!) Besonders bekannt ist er für seine weitläufigen Dünen. Das polnische Wort für Dünen, wydmy, ist dementsprechend überall zu lesen: „Hier entlang zu den Dünen! Dünen!“
Ein Erlebnis sind aber nicht nur die Dünen selbst, sondern auch die Begeisterung, die sie vermitteln. Menschen, die auf Landschaften schauen: Das Wort „Ehrfurcht“ ist vielleicht zu groß, aber ein Hauch davon ist auf den weiten Sandflächen schon zu spüren. Selbst bei den herausgeputzten Jugendlichen, die sich gegenseitig für ein paar Likes auf Instagram ablichten.
Zwischen den Dünen und dem Meer finden wir einen der schönsten Strände, den ich je gesehen habe: sauber, einsam, endlos. Wir verbringen Stunden dort, legen mit den kleinen, abgerundeten Steinen Buchstaben und hüpfen über die Wellen. Und auf einmal ist auch die Erholung da, nach der ich mich in den überhitzten Wiener Sommertagen so gesehnt habe. Ein Durchatmen, ein Ahnen von Weite – wie am Nordpol eben!
Am nächsten Tag kehren wir zu den Dünen zurück, diesmal, um dort den Sonnenuntergang zu erleben. Erneut klettern wir auf die Spitze, die auf den Namen Biała Góra („Weißer Berg“) getauft wurde. Je nach Wind und Wetter befindet sie sich 20 bis 30 Meter über der Seehöhe. Immerhin hoch genug, um in alle Richtungen blicken zu können! Wir lachen über den Tipp, den uns jemand gegeben hat: Die beste Uhrzeit für das schönste Dünenerlebnis sei nicht morgens oder abends, sondern die Nebensaison. Aber wir haben Glück, es ist kaum etwas los, ein Fuchs läuft durchs Bild und die untergehende Sonne liefert ein Naturschauspiel vom Allerfeinsten.
Danzig: Hauptstadt mit Strand
Bevor wir wieder nach Wien zurück müssen (mit Betonung auf „müssen“), fahren wir noch weiter nach Danzig. Das insgesamt doch sehr beschauliche Leben in Łeba weicht dem Massentourismus in der nordpolnischen Hauptstadt, die Altstadt geht fast über vor Menschen. Die Stadt lässt sich so nicht mehr wirklich sinnvoll erleben, also fahren wir hinaus an die Mündung der Weichsel, zurück an die Ostsee. Die Fähre nach Stockholm fährt dicht an uns vorbei, später spazieren wir zum Brzeźno-Strand, dem von Wien aus am schnellsten erreichbaren Ostseestrand. Trotzdem trennen Wien und die Ostsee einfach viel zu viele Kilometer!
Zurück reisen wir von Danzig nach Warschau, um dort in den Nachtzug nach Wien zu steigen. Vor der langen Fahrt zurück in den Süden stärken wir uns noch in dem Eisenbahnbeisl „Peron 8“, liebevoll geschmückt mit Zugzielanzeigen und Fotos von Dampflokomotiven. Und schon eine schlaflose Nacht später – warum müssen Züge in Polen an jeder Kreuzung hupen? – bin ich wieder im Wiener Alltag angekommen.
Das Fazit dieser kleinen Reise: alles dabei, was man sich vom Nordpol erwartet! Oder etwa nicht?
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Meine Liebeserklärung an Danzig im Winter: https://stadtstreunen.at/dzien-dobry-ein-morgen-in-danzig/
Noch mehr Ostsee-Liebe spürst du hier (Estland), hier (Schweden) und hier (Lettland, Litauen)
1 Kommentare
Ist ein Kaczkomat ein Entenfütter Automat? Wenn nicht weiß ich leider auch nicht 😀 Oder man kriegt ne kleine Ente? was auch toll wär!