Schlesien ist ein Begriff, den ich in meiner Kindheit öfter gehört habe, wenn meine Familie von deutschen Vertriebenen gesprochen hat. Natürlich hatte ich keine Ahnung, was es damit auf sich hat, und nachdem ich Schlesien nicht auf einer Landkarte verorten konnte, blieb diese Region lange eine Terra Incognita für mich, ohne genaue Umrisse („irgendwo in Polen halt“). Aber wir schreiben das Jahr 2023, ein Jahr, in dem ich mir vorgenommen habe, weißen Flecken auf meiner Reiselandkarte mehr Farbe und Kontur zu verleihen.
Mit Panorama nach Polen
Wie sich herausstellt, befindet sich dieses geheimnisvolle Schlesien (das übrigens auch zum Teil in Tschechien und Deutschland liegt) nur wenige Stunden von Wien entfernt – und lässt sich neuerdings sogar mit einem Schweizer Zug bereisen. Mein Reisegefährte Helmut ist höchstpersönlich dafür verantwortlich, dass die SBB CFF FFS ihren Panoramawagen von Zürich über Graz und Wien nach Przemyśl und wieder zurück schicken. Grund genug, nach Polen aufzubrechen!
„Zufällig“ treffen wir noch zwei weitere Eisenbahnfreunde von Helmut, die extra um 5 Uhr früh aufgestanden sind, um die ganze Strecke von Graz nach Przemyśl zu fahren. Wir geben uns mit den vier Stunden zwischen Wien und Katowice zufrieden. (Das Panorama aus dem Panoramawagen dürfte allerdings zwischen Graz und Wien oder zwischen Zürich und Graz etwas eindrucksvoller sein…)
Rundgang durch Katowice
Katowice, die Hauptstadt der Region Schlesien, ist eine vergleichsweise junge Stadt, die erst ab den 1850er Jahren im Zuge der Industrialisierung vom Dorf zur Stadt wurde. Davor haben jahrhundertelang deutsch-, schlesisch- und polnischsprachige Bauern und ihre Familien das fruchtbare Land bestellt, ohne zu ahnen, dass unter ihren Füßen tonnenweise wertvolle Rohstoffe lagern. Kohle und Erz haben Katowice und Umgebung aber nicht nur Geld gebracht, sondern auch Verschmutzung und Zerstörung. Die Fassaden mancher Häuser sind nach wie vor von der Kohle geschwärzt, die Luftqualität in der Region ist selbst im weltweiten Vergleich grottig. Bis heute sollen Ärzt:innen entsetzt sein, wenn sie auf Röntgenaufnahmen die Lungen hier ansässiger Menschen sehen.
Vielleicht ist diese rezente Stadtentwicklung der Grund, warum sich Katowice den Anforderungen des 21. Jahrhunderts mit Leichtigkeit stellt. Zumindest ist das unser Eindruck, als wir an einem heißen Sommertag durch die weitgehend verkehrsberuhigte Innenstadt spazieren. Mit einer großzügigen Fußgänger:innenzone und viel Grün wirkt die Stadt attraktiver, als ich es mir von einer Industriestadt erwartet hätte. An manchen Ecken werde ich direkt neidisch, wenn ich an die Autostadt Wien denke, wobei es auch in Katowice natürlich noch viel Luft nach oben gibt. Die Einheimischen wissen die Neugestaltungen jedenfalls zu schätzen, denn auf den Straßen geht es äußerst lebendig zu. Abends verwandelt sich die Mariacka-Straße in eine Flaniermeile, auf der die Dichte an High Heels erstaunlich hoch ist. Vielleicht, um beim Gesehen-Werden besser zu sehen?
Wohnen neben der Kohlegrube
Bevor wir beim Nachtleben mitmischen (skandalöserweise ohne High Heels), machen wir noch einen Ausflug nach Nikiszowiec, einen weit im Osten gelegenen Stadtteil von Katowice. Der alte deutsche Name lautet – sehr profan – Nickisch-Schacht und gibt einen deutlichen Hinweis auf die Funktion dieser Siedlung: Hier lebten ab den 1920er Jahren Kohlearbeiter in unmittelbarer Nähe zu ihrem Arbeitsplatz, der Gieschegrube. Was bedrückend klingt, sieht durchaus hübsch aus, auch wenn es nach wie vor manchmal nach Kohle riecht.
Die Backsteinbauten machen einen heimeligen Eindruck, dazwischen liegen ausgedehnte Gärten, mittendrin befindet sich eine Kirche. Das einzige Kaffeehaus erinnert mit seiner hellen Einrichtung an eine typisch polnische Milchbar, im Gastgarten blühen exotische Blumen. Fast schade, dass wir diesen eigenwilligen Ort wieder verlassen müssen.
Kunst in Katowice
Am nächsten Tag ist es trotz der vielen Begrünung zu heiß, um die Stadt zu erwandern, obwohl es noch viel zu sehen gäbe: unter anderem ein waschechtes UFO! Wir begnügen uns mit einem kurzen Blick auf die originelle Mehrzweckhalle „Spodek“ (auf Deutsch: Untertasse). Den restlichen Tag verbringen wir lieber im gut gekühlten Schlesischen Museum (Muzeum Śląskie).
Das Museum ist stilecht auf dem Gelände einer ehemaligen Fabrik untergebracht. Der markante Förderturm ist leider gesperrt, die Orientierungspfeile zeigen in den Keller. Wir müssen unter Tage, die beiden Ausstellungsebenen sind im Untergeschoss untergebracht. Wir sind beeindruckt von dem Nachbau einer Kohlemine und verlieren uns eine Weile in dem Labyrinth der schlesischen Geschichte. Die Kunstwerke aus dem 19. und 20. Jahrhundert, die unterschiedlichste Szenen zeigen, haben oft eines gemeinsam: Im Hintergrund sind Fördertürme, Schlote und Rauchwolken zu sehen. Nicht zuletzt ist die Kohle selbst auch ein Material, das zu Kunst werden kann – im Museum befinden sich tiefschwarze Skulpturen, in der mächtigen Christkönigskathedrale hinter dem Bahnhof steht sogar ein Altar aus Kohle.
Katowice, eine Stadt der Kohle, eine Stadt der Kunst – auf jeden Fall eine sehenswerte Stadt! Bleibt die Frage offen, ob ich die bisher weißen Flecken auf meiner Landkarte jetzt mit bunten Farben ausmalen soll – oder doch mit Kohlestiften…
Reisetipps
Katowice ist weitgehend untouristisch, es gibt aber trotzdem alle Annehmlichkeiten, die man von Polen gewohnt ist: wirklich gutes Essen (z.B. bei der georgischen Kette Chinkalnia Katowice, in dem Beisl Pod Siódemką beim Bahnhof oder im Café moodro im Schlesischen Museum) sowie günstige und hochwertige Unterkünfte. In den Hotels an der Mariacka-Straße wird es abends schon mal laut, dafür gibt es Zimmer mit Blick auf die Gleise.
Link zu dem sehenswerten Schlesischen Museum: https://muzeumslaskie.pl/
Warst du, liebe Leserin, lieber Leser, schon einmal in Katowice? Wie hat es dir gefallen? Schreibe es gerne in die Kommentare! 🙂