Am 26. Dezember mache ich Jahr für Jahr einen Weihnachtsausflug – eine Tradition, die mein Vater und ich im fernen Jahr 2004 begonnen haben und die ich auch nach seinem Tod gerne weiterführe. Allerdings gehen mir langsam die Ideen aus, vor allem innerhalb Österreichs: Nach Baden (2017), Fließ bei Landeck (2018), Waidhofen an der Ybbs (2019) und Eisenstadt (2020) fällt mir diesmal einfach kein passendes Ausflugsziel mehr ein.
Zum Glück hat meine Mutter noch etwas in petto: „Fahren wir doch zum Christkindl!“ Das Christkindl? Ich erfahre, dass das liebliche Pendant zum Weihnachtsmann nicht am Nordpol, sondern im oberösterreichischen Steyr beheimatet ist. Also setzen wir uns am 26. Dezember in den Zug und fahren mit einem Umstieg in St. Valentin nach Steyr.
Steyr entpuppt sich als ideales Ausflugsziel, und das nicht nur wegen des Christkindls (ja, das gibt es wirklich – dazu später noch mehr). Die historische Altstadt liegt am Zusammenfluss von Steyr und Enns und ist damit sehr malerisch gelegen. Die Stadt ist übrigens nach dem Fluss benannt und nicht umgekehrt – „Stiria“ ist ein keltisches Wort und bedeutet in etwa „die Aufstauende“. Ich bin ganz begeistert, als wir wenige Schritte nach dem Bahnhof erstmals das schöne Ensemble überblicken: Warum fahren alle ins hoffnungslos überlaufene Hallstatt? Auf nach Steyr!
Am Stadtplatz von Steyr
Die Geschichte von Steyr reicht weit in die Zeit zurück: Die ersten urkundlichen Erwähnungen sind mehr als 1.000 Jahre alt. Der Stadtplatz gilt als einer der besterhaltenen historischen Plätze im gesamten deutschsprachigen Raum. Hier reiht sich eine architektonische Perle an die nächste: ein hellblaues Haus im spätbarocken Stil, ein gotisches Bürgerhaus mit einem goldenen, etwas pummeligen Löwen (daher der Spitzname „Bummerlhaus“), das elegante weiße Rokoko-Rathaus und mittendrin ein Weihnachtsbaum. Auch eine Krippe darf nicht fehlen! Noch dazu ist der Platz weitgehend autofrei, das verdient im Autoland Österreich jedenfalls eine Erwähnung (ich erinnere mich noch mit Grauen an die zwei Park… äh, Stadtplätze von Waidhofen an der Ybbs).
Aber auch an der anderen Seite der Steyr gibt es Sehenswertes zu entdecken. Wir überqueren die Brücke und haben dann die Wahl zwischen dem Weihnachtsmuseum auf der linken Seite und dem Panoramalift auf der rechten Seite. Auf zum Lift! Der Lift bringt uns entlang einer fast senkrechten Wand in wenigen Sekunden hinauf in einen höher gelegenen Stadtteil namens Tabor.
Schmerzhafte Erinnerungen
Hier wartet nicht nur ein schöner Blick über die Stadt auf uns, zu meinem Erstaunen ist der Lift Teil einer Auseinandersetzung mit der grauenvollen Geschichte von Steyr – einem wichtigen Standort der Rüstungsindustrie im Zweiten Weltkrieg. Die Fundamente des Lifts liegen in einem ehemaligen Luftschutzbunker, den Zwangsarbeiter*innen errichten mussten. In einem anderen Bunker in der Nähe – dem „Stollen der Erinnerung“ – hat das Mauthausenkomitee Österreich eine ständige Ausstellung über das Konzentrationslager im Steyrer Stadtteil Münichholz und das Schicksal der Zwangsarbeiter*innen eingerichtet.
Ich bin direkt erstaunt: eine Stadt mit wenigen Autos im historischen Zentrum und einer angemessenen Aufarbeitung der NS-Zeit, mitten in Österreich – kann es das wirklich geben? Wahrscheinlich nicht, aber die Illusion gefällt mir jedenfalls. Sehr sogar!
Eine Wallfahrt mit Eisvögeln
Zwar ist der 26. Dezember der ideale Tag, um das Weihnachtsmuseum zu besuchen, aber wir wollten ja zum Christkindl! Die Wallfahrtskirche, die das berühmte Christkindl beherbergt, befindet sich etwa drei Kilometer westlich vom historischen Stadtzentrum – in einem Stadtteil namens Christkindl (ja, es geht hier etwas monothematisch zu). Mittlerweile ist uns kalt geworden und ein Spaziergang entlang der Steyr verspricht etwas Aufwärmung.
Allerdings kommen wir nicht sonderlich gut voran, weil es so viel zu sehen gibt: Schon nach wenigen hundert Metern passieren wir eine kunstvolle Krippe unterhalb eines Wasserfalls, dann kommen wir zum Bahnhof der Museumsbahn von Steyr. Da heißt es natürlich: Fotohalt! Schließlich bleiben wir noch stehen, um zwei Eisvögel in den Flussauen zu beobachten. Es dauert also seine Zeit, bis wir leicht erfroren bei der Kirche landen – fast wie bei einer richtigen Wallfahrt.
Von Kirchen und Krippen
Ich bin schon die ganze Zeit über gespannt, was es mit diesem Christkindl auf sich hat. In der grau-rosa Wallfahrtskirche hoch über den Flussauen der Steyr finden wir es schließlich, aber ich muss die Augen zusammenkneifen, um es überhaupt entdecken zu können. Es ist winzig! In dem prunkvollen barocken Altar geht die kleine Figur fast unter.
Neben der Kirche wartet noch das Christkindl-Postamt auf uns, das aber an Feiertagen geschlossen hat, und eine Krippenausstellung gibt es auch. Noch mehr Weihnachten! Die Krippenausstellung ist sehr sehenswert: Wie viel Zeit Menschen investiert haben, um Krippen zu bauen, ist schon beachtlich. Manche haben ein ganzes Leben lang an den hunderten Figuren gebastelt! Nichts für mich, ich gehe lieber stadtstreunen 🙂
Beim Rückweg gehen wir nicht den Fluss entlang, sondern folgen dem deutlich höher gelegenen Christkindlweg, der von Christkindl zurück ins Zentrum führt. Steyr lässt keine Zweifel offen: Der Weihnachtsmann hat hier keine Chance! Dafür treffen wir am Stadtplatz eine Perchtenfigur, die zwar unüberhörbar mit ihren Glocken rasselt, aber niemandem so recht Angst einjagen kann. Wir betrachten noch einmal den schönen Stadtplatz von Steyr, der mittlerweile in der Dämmerung liegt, bevor wir zurück zum Zug eilen. Baba Steyr, baba Christkindl – bis bald!
Tipps
In Steyr sind mehrere interessante Museen beheimatet: Neben dem erwähnten Weihnachtsmuseum und dem Stollen der Erinnerung gibt es hier noch das Museum der Arbeitswelt. Beim nächsten Mal dann!
Von Mai bis Oktober verkehrt die Museumsbahn Steyr, eine Schmalspurbahn, die von Steyr nach Grünburg und wieder zurück fährt. Informationen und Termine: https://www.oegeg.at/schmalspur-steyrtalbahn/
Reisedaten
Sonntag, 26. Dezember 2021
Wien Meidling ab 09:02
St. Valentin an 10:15
St. Valentin ab 10:21
Steyr an 10:45
Fahrt retour auf derselben Strecke
Wie immer gilt: Nachreisen ausdrücklich erlaubt!
PS: Wer erkennt meine sonst so fotoscheue Mutter auf den Fotos?