Rumänien liegt zwar in Osteuropa, ist aber trotzdem recht bekannt. Immerhin gibt es mit Graf Dracula eine weltweit geläufige Identifikationsfigur, der Begriff „Transsilvanien“ erzeugt sofort Assoziationen zu dichten Wäldern und Burgen und ein gewisser Politiker hat es mit stalinistischer Grausamkeit zu einiger Berühmtheit gebracht. Im Gegensatz zu anderen osteuropäischen Ländern wie Moldawien, Lettland oder Albanien ist Rumänien also zumindest kein unbeschriebenes Blatt. Aber wie ist Rumänien jenseits der Klischees, wie leben die Menschen dort und wie fühlt es sich an, durch die zahlreichen kleineren und größeren Städte zu spazieren? Probieren wir es aus: in Brașov/Kronstadt, Suceava und Timișoara/Temeschwar.
Deutsche Perle Brașov/Kronstadt
Helmut und ich steigen in Budapest in den Nachtzug „Corona“, benannt nach dem historischen Namen der Zielstadt Brașov: eine Stadt mit knapp einer Viertelmillion Einwohner:innen, die ziemlich genau im Zentrum des Landes liegt. Sie ist Teil der Region Transsilvanien, auch Siebenbürgen genannt. Dazu fällt mir das Stichwort „Siebenbürger Sachsen“ ein – jene deutschsprachigen Gruppen, die bereits im 12. Jahrhundert aus dem heutigen Deutschland ausgewandert sind und hier seitdem eine sprachlich-kulturelle Minderheit bilden -, und tatsächlich ist Brașov eine deutsch geprägte Stadt. Beim Blick auf die Bürgerhäuser, die gotische Schwarze Kirche und die roten Dächer kann ich mir gut vorstellen, irgendwo in Deutschland zu sein.
Aber weil wir in Rumänien sind, gibt es auch eine historische rumänische Vorstadt, die heute längst Teil der Altstadt ist – und in der ein Symbol der Nation steht: In einem dunkelgelben Gebäude am Gelände der Nikolaus-Kirche wurden ab Mitte des 16. Jahrhunderts erstmals Kinder auf Rumänisch unterrichtet. Heute wird überall in der Stadt Rumänisch gesprochen, auch wenn die deutsche Minderheit nach wie vor stark vertreten ist: Gleich gegenüber der berühmten Schwarzen Kirche befindet sich das deutschsprachige Honterus-Kolleg, benannt nach dem mittelalterlichen Theologen und Reformator Johannes Honterus. Die Kirche selbst ist übrigens gar nicht schwarz, dafür recht eigenwillig geschmückt: An der Wand hängen etliche geknüpfte Teppiche. Eine Erinnerung an die historische Nähe zum Byzantinischen, später zum Osmanischen Reich, die Handel begünstigt hat – aber natürlich auch Konflikte. Die dicken Stadtmauern erzählen noch heute davon.
In Brașov überlagert sich eben die Geschichte. Ein Jahrzehnt lang, von 1950 bis 1960, war die Stadt umgetauft. Statt in Brașov, Kronstadt, Brassó oder Corona lebten die Menschen in Orașul Stalin, der Stalin-Stadt. Damals wurden auf dem Hausberg Tâmpa Nadelbäume gepflanzt, die den Schriftzug STALIN gebildet haben. Die andersfarbigen Bäume sind längst gerodet und durch ein hollywood-taugliches Brașov-Schild ersetzt worden; Stalin ist ebenso aus der Stadt vertrieben wie Langzeitdiktator Ceaușescu.
Die Stadt hat schließlich auch mächtige Beschützer: In den Wäldern rundherum leben zahlreiche Bären, die sich abends auch in so manches Viertel am Stadtrand wagen. Bei einem Ausflug mit der Seilbahn („Telecabina“) auf den Berg Tâmpa sehen wir natürlich keine Bären, höchstens ein paar Vögel – und viele andere Tourist:innen aus Nah und Fern. Kein Wunder, bei dieser Perle von Stadt!
Beton in der Bukowina: Suceava
Von Siebenbürgen in die Bukowina, eine andere historisch bedeutsame Region in Rumänien: Die Hauptstadt des Buchenlandes – so heißt die Bukowina übersetzt – kann allerdings mit Brașov nicht ganz mithalten. Suceava (Aussprache „Sutschawa“) reimt sich so gar nicht auf Charme. Es beginnt damit, dass der hübsche Bahnhof weit außerhalb im Vorort Burdujeni liegt und die Bus- oder Taxifahrt ins Zentrum durch Industrieanlagen und Einkaufszentren führt. Auch die mächtige, wiederaufgebaute Festung der Moldaufürsten und das Freilichtmuseum sind einen längeren Spaziergang entfernt.
Das Herz der Stadt bildet stattdessen ein Platz, der sich durch einen hohen Anteil an Beton auszeichnet. Die klobigen Bauten üben dennoch eine gewisse Faszination auf uns aus; sie könnten sogar richtig cool wirken, wären sie etwas besser hergerichtet. Auch die Seitengassen können sich sehen lassen: Wir finden eine Synagoge, einen armenischen Friedhof, eine evangelische Kirche – Verweise auf eine einzigartige Kulturlandschaft, die durch Nationalismus, Antisemitismus und andere -ismen (genau genommen: durch solche Menschen) weitgehend zerstört worden ist. Stadtstreunen bedeutet mitunter eben auch, den ausgelassenen Kapiteln im Geschichtsbuch nachzuspüren. Und von Rumäniens Geschichte wusste ich bisher kaum etwas.
Nach einem ersten Rundgang durch Suceava fangen wir an, uns zu entspannen. Liegt es an den gemütlichen Pölstern im Straßencafé, der ungewöhnlich warmen Herbstluft, den beliebten Jogginganzügen? Oder doch daran, dass hier trotz der rund 85.000 Einwohner:innen gar so wenig los ist? Wir ahnen es schon, der Reiseführer gibt uns schließlich Gewissheit: Die wahren Sehenswürdigkeiten der Bukowina liegen nicht in, sondern rund um Suceava. Sie bestehen aus verstreut liegenden Klöstern, bekannt als Moldau-Klöster, die mit ihren jahrhundertealten Wandmalereien UNESCO-Weltkulturerbe-Status erlangt haben.
Wir fahren mit Zug und Taxi durch die Waldlandschaft der Bukowina in das Dörfchen Voroneț/Woronetz, wo eines dieser sagenhaften Klöster zu finden ist. Die Bilder an den Außenmauern sprechen die ganz großen Themen an: Wer trägt einen Heiligenschein, wer nicht? Wie sieht der Teufel aus? Und welche Wesen kann ich in der Hölle kennenlernen? Die einzigartige blaue Farbe der Malereien verstärkt die Eindrücke noch. Geläutert treten wir den Weg zurück nach Suceava an.
Kulturhauptstadt Timișoara/Temeschwar
Eine lange Abend- und Nachtzugfahrt von Suceava entfernt liegt eine urbane Entdeckung: Timișoara/Temeschwar, die drittgrößte Stadt Rumäniens und das Zentrum der Region Banat, ist ein echtes Stadtstreunen-Highlight. Die großzügigen Plätze in der Altstadt, die herausgeputzten Gebäude, das kosmopolitische Flair… als wäre die k.u.k.-Monarchie wieder auferstanden. Zumindest fühle ich mich hier gleich ein wenig zuhause. Und Straßenbahnen gibt es auch!
Wir lernen die Stadt von ihrer besten Seite kennen: Die Kulturhauptstadt des Jahres 2023 hat sich mit dutzenden Installationen, Performances und Ausstellungen ordentlich ins Zeug gelegt. Wir besteigen als Erstes einen temporären Turm auf der Piața Victoriei, der mit hunderten von Pflanzen auf die Notwendigkeit aufmerksam macht, die Stadt an den Klimawandel anzupassen. Gleichzeitig bietet der Turm eine tolle Spielfläche, um mit der Stadt zu experimentieren. Ich komme zum Schluss: Städte brauchen auch Orte, die einfach Spaß machen.
Abends besichtigen wir das Queere Museum, das nur ein paar Tage lang geöffnet hat, und wundern uns über die geringe Anzahl an Fotos und Kunstwerken. Ein*e Mitarbeiter*in klärt uns auf, dass es aufgrund der jahrzehntelangen Diskriminierung und Repression (Ceaușescu und seine Vorgänger lassen einmal mehr grüßen) kaum Zeugnisse queeren Lebens in Rumänien gibt. Heute ist es immer noch schwierig, in Rumänien queer zu sein, aber in Timișoara besser als anderswo. In der nahen Buchhandlung Cărtureşti finde ich immerhin zahlreiche Klassiker der feministischen und queeren Literatur – und Bücher von rumänischen Schriftsteller:innen.
Dazu zählt auch Herta Müller, die 2009 den Nobelpreis für Literatur erhalten hat. Sie hat in Temeschwar prägende Erfahrungen gemacht: Hier hat sie das deutsche Gymnasium besucht, hier hat sie Freundschaften geschlossen, hier hat sie die Einschüchterung und Verfolgung der Securitate am eigenen Leib erfahren. Das Ceaușescu-Regime hat sogar für Diktatur-Verhältnisse besonders grausame Methoden entwickelt, um Menschen zu brechen und ihr Vertrauen in die Welt nachhaltig zu zerstören, wovon sie wort- und bildgewaltig erzählt. (Ein weiteres, extrem verstörendes Kapitel in der Geschichte Rumäniens ist der Umgang mit Waisenkindern vor 1990 – ob es dafür überhaupt Worte geben kann?)
Herta Müller ist 1987 schließlich die Flucht nach Deutschland geglückt; nur wenige Jahre später hat sich in vielen Regionen des Landes ernstzunehmender Widerstand formiert – ausgehend von Timișoara. Als der ungarische Pfarrer und Dissident László Tőkés im Oktober 1989 zwangsversetzt werden sollte, versammelten sich so viele Menschen um sein Haus, dass Polizisten und Militärs zu Schusswaffen griffen. Gewalt und Chaos mit vielen Todesopfern waren die Folge – bis der Langzeitdiktator Ende 1989 endlich gestürzt werden konnte. Seitdem trägt Timișoara den stolzen Beinamen Orașul liber, die freie Stadt.
„Stadtluft befreit“ – Timișoara zeigt, wie’s geht. Auch heute noch!
La revedere, România!
Weiterlesen & Tipps
Stadtstreunen.at: Bericht einer Kurzreise nach Alba Iulia im Dezember 2021: https://stadtstreunen.at/weisse-stadt-im-wintergrau-alba-iulia-in-rumaenien/
Übernachten: Das Hotel Casa Bucovineană in Suceava bietet authentisches Bukowina-Flair. Noch authentischer geht’s freilich im Nachtzug zu, es gibt mehrere Verbindungen nach Rumänien und innerhalb des Landes: https://cfr.ro/.
Rumänische Küche: Wir können das Lokal La Ceaun („Der Kessel“) am Hauptplatz in Brașov empfehlen. In Suceava haben wir im Restaurant unserer Unterkunft Casa Bucovineană sehr gut gegessen. In Timișoara bietet sich das etwas abgelegene Lokal Valahia wegen der guten Küche und des netten Services an – und weil man mit der Straßenbahn dorthin fahren kann.
Reiselektüre: „Atemschaukel“, das bekannteste Werk der nobelpreisgekrönten Schriftstellerin Herta Müller, darf in keinem Rucksack oder Koffer fehlen. Ich kann auch ihre Essay-Sammlung „Der König verneigt sich und tötet“ sehr empfehlen. Der Roman „Die nicht sterben“ von Dana Grigorcea bietet eine leicht lesbare, etwas bizarre Auseinandersetzung mit dem beliebten Vampir-Thema. In der gut sortierten Buchhandlung Cărtureşti in Temeschwar habe ich ein Buch von Gabriela Adameșteanu in englischer Übersetzung gefunden („The Encounter“), das ich gerade lese. Außerdem auf meiner Leseliste: der Wälzer „Solenoid“ von Mircea Cărtărescu.
Kultur: Temeschwar ist bekannt für seine lebendige Filmszene. Gleich zwei Kinos im Stadtzentrum laden dazu ein, sich rumänische und internationale Filme anzuschauen: das Cinema Timiş und das Cinema Victoria. (Wir haben uns dort den Film „Club Zero“ der österreichischen Regisseurin Jessica Hausner angeschaut – etliche Wochen vor der Österreich-Premiere!) Mit dem Staatstheater Temeswar gibt es sogar ein deutschsprachiges Theater. Auch das Muzeul Consumatorului Comunist ist einen Besuch wert. Entspannung zwischendurch bietet eine Fahrt mit dem Vaporetto auf dem Kanal Bega – Venedig-Feeling um 20 Cent pro Richtung!
Warst du, liebe Leserin, lieber Leser, schon einmal in Rumänien? Wie hat es dir gefallen? Hinterlasse gerne einen Kommentar mit deinen Erlebnissen oder schreibe mir eine Mail an eva [at] stadtstreunen.at.