Wenn beim Kreuzworträtsel eine europäische Hauptstadt mit neun Buchstaben gefragt ist, gibt es mehrere Lösungen. Manche sind geläufiger als andere, zum Beispiel Stockholm, Amsterdam oder Reykjavik. Nach einigem Kopfzerbrechen fallen mir noch die Außenseiter unter den europäischen Hauptstädten ein: Podgorica – und Kischinau.
Die Hauptstadt der Republik Moldau war noch nie im Zentrum. Früher am westlichsten Rand des russischen Reiches und der Sowjetunion gelegen, ist Kischinau heute ein östlicher Außenposten dessen, was wir Europa nennen. Hier wird mit Lei gezahlt, nicht mit Euro, und kleine Zettelchen werben auf Laternenpfosten für Schengen-Visa. „Wir organisieren Ihnen Arbeit in Europa!“ Europa, das ist woanders – im Westen. Selbst innerhalb Moldawiens wird der Hauptstadt Konkurrenz gemacht, aber dazu später noch.
Wer nach dem Städtetrip in Stockholm oder Amsterdam nach Kischinau reist, schreibt möglicherweise in das Reisetagebuch: hässlich, nicht sehenswert, weiter. Ein solches Urteil klingt in meinem Ohren aber nach etwas anderem: nach einem Spezialauftrag zum Stadtstreunen! In diesem Sinne folgt nun ein ausgedehnter Streifzug durch Kischinau – nur echt mit Zug, natürlich.
Nachtzug nach Kischinau
Die Anreise ist selbst für mich, die mit Osteuropa seit der ersten Reise in die Ukraine im Jahr 2007 vertraut ist, ein Abenteuer. Helmut und ich steigen an einem lauen Abend Anfang Oktober in den Nachtzug von Bukarest nach Kischinau; das ist zumindest der Plan. Davor müssen wir aber den Nachtzug erst finden: Er ist auf einem so spärlich beleuchteten Bahnsteig abgestellt, dass ich ihn beinahe übersehe. Der Zug selbst ist mittlerweile eine Legende: In der DDR gebaut, in der Sowjetunion eingesetzt, hat er 2022 seine eigene Hymne erhalten. Die moldawische Band Zdob și Zdub hat es mit dem Song „Trenulețul“, in dem die Zugverbindung zwischen den beiden Städten temporeich besungen wird, sogar zum Eurovision Song Contest geschafft.
Der Kellner des Barwaggons erzählt uns bei einem Glas moldawischen Rotweins – das bekannteste und wohl auch beliebteste Produkt des Landes – von seinem langjährigen Dienst bei der Eisenbahn. Heute fährt er zwischen Bukarest und Kischinau hin und her, kommt höchstens noch nach Kiew, aber früher, da gingen die Züge noch bis hinauf nach Moskau und Murmansk! Jetzt ist es anders, die Relationen haben sich verschoben. Dass sich Moldawien zum Teil immer noch an Moskau orientiert, ist dem langen Nachhall der Sowjetunion geschuldet. Kleine Tafeln neben den Schienen zeigen nach wie vor die Entfernung in die ehemalige Bezugsmetropole an. Noch 1600 Kilometer bis Moskau, 1599 Kilometer, 1598 Kilometer…
Bevor wir aber moldawischen Boden befahren dürfen, müssen wir eine komplizierte Prozedur über uns ergehen lassen. Sie hat damit zu tun, dass Moldawien Teil des Breitspurlands ist; ein weiteres Erbe der Sowjetunion. Im Grenzbahnhof Ungheni, den wir gegen zwei Uhr morgens erreichen, werden die Normalspur-Drehgestelle von den Waggons entfernt und Breitspur-Drehgestelle montiert. Ausgerechnet unser Abteil spielt dabei eine zentrale Rolle: Ein Arbeiter verschafft sich Eintritt, öffnet eine Luke im Boden, zieht drei lange Metallstangen heraus, schleust drei lange Metallstangen hinein und schließt die Luke wieder. So lerne ich das Wort „Bolzenabteil“ kennen.
Nach der Grenzkontrolle – Pass, Stempel, Pass, Stempel – fahren wir auf breiten Schienen durch ein schmales Land. Und das mit deutlich weniger Tempo als bei Zdob și Zdub: Für die etwa 100 Kilometer nach Kischinau braucht der Zug mehrere Stunden, die wir gemütlich schlafend zwischen blau-lila geblümten Bettlaken verbringen.
Kischinau to go
Kischinau: neun Buchstaben, drei Silben, das erscheint mir zu lange. Ich nenne die Stadt, die auf Rumänisch Chișinău und auf Russisch Кишинёв heißt, einfach nur Kischi. Wenn der erste Eindruck zählt, hat die Stadt jedenfalls gewonnen: Der Bahnhof kann sich sehen lassen. Ein imposantes Gebäude, das mit Liebe zum Detail eingerichtet wurde – die insgesamt vier Aquarien passen thematisch zwar nicht dazu, aber wer Züge mag, mag vielleicht auch bunte Fische. Am Bahnhofsvorplatz geht es farbenfroh weiter: Ein Secondhand-Kleidermarkt breitet sich auf dem Asphalt aus. Neueste Ware, so gut wie neu zumindest, und natürlich aus Europa!
Wir haben Glück mit Kischinau: Ausgerechnet an unserem Ankunftstag feiert die Stadt ihren 587. Geburtstag. Der sechsspurige Boulevard im Zentrum ist für den motorisierten Verkehr gesperrt, stattdessen finden wir hier ein ausgedehntes Straßenfest. Spanferkel braten vor sich hin, Jugendliche borgen sich E-Scooter aus, Kinder greifen nach Luftballons und Frauen verkaufen ihr Kunsthandwerk im Park. Die gepflegte Grünfläche rund um die Kathedrale ist nicht die einzige in Kischinau: Die Stadt ist gesprenkelt mit Parks. Dazwischen Autos, Autos, Autos und ab und zu ein O-Bus; wie so viele Städte in Europa hat Kischinau ein echtes Auto-Problem. Aber wir finden auch einen vorbildlich abgesicherten Radweg im Zentrum, der durch eine hübsche Allee führt.
Zugegeben: Der kleine Triumphbogen von Kischinau kann mit seinem weitaus berühmteren Verwandten, dem Arc de Triomphe in Paris, nicht mithalten. Und auch sonst lassen sich die Sehenswürdigkeiten der Stadt recht rasch abklappern, sie liegen im Wesentlichen entlang des Bulevardul Ștefan cel Mare – benannt nach Stefan dem Großen, dem heute omnipräsenten mittelalterlichen Herrscher Moldawiens. Kein Wunder also, dass wir hier keine Hop-on-hop-off-Busse sehen, die Touris durch die Stadt schleusen. Kischinau lässt sich auch nicht in ein Bild fassen – à la „Stadt der Liebe“ – , aber umso interessanter ist es, die Stadt aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten.
Kischinau von oben und von unten
Hoch über Kischinau schweben können wir im Vergnügungspark Valea Trandafirilor („Tal der Rosen“), dessen Fahrgeschäfte teils noch sowjetischen Charme ausstrahlen. Wir beschließen, dem angerosteten Riesenrad zu vertrauen, und genießen schon bald den Ausblick über die Stadt. Eine zusammenhängende Skyline hat Kischinau nicht; das einzige architektonische Aushängeschild sind die Pforten der Stadt, eine Reihe von Hochhäusern aus den späten 1970er und frühen 1980er Jahren. Heute abgewohnt und heruntergekommen, sind sie eher für Plattenbau-Nerds als für 08/15-Touris interessant. Dafür ist hier offenbar die Liebe zuhause, wie ein Graffiti auf einem der Häuser zeigt: любовь здесь.
Russisch ist in Kischinau nicht nur zu sehen, sondern auch zu hören: Die Lingua Franca des Ostblocks ist hier überall geläufig. Ein entscheidender Vorteil für uns, da Helmut gut Russisch spricht und wir uns mit anderen Fahrgästen im Bus ebenso unterhalten können wie mit Verkäuferinnen und Taxifahrern. Eine Frau, die selbstgehäkelte Stofftiere am Markt anbietet, erzählt uns von ihrem Sohn, der in die Niederlande ausgewandert ist. Kein Einzelschicksal: Über ein Viertel der moldawischen Bevölkerung lebt heute im Ausland, mit weitreichenden und schwer abschätzbaren Folgen für die Entwicklung des Landes.
Perspektiven gibt es in Moldawien wenige. Der Tourismus stagniert seit der Pandemie, das Land ist politisch instabil. Zum Glück erfahre ich erst in Kischinau, dass das österreichische Außenministerium dem Land die Sicherheitsstufe 4 bescheinigt – „hohes Sicherheitsrisiko“. Das liegt wohl auch an Transnistrien, jener abgespaltenen Pseudo-Republik im Osten des Landes, die als Zeitkapsel der Sowjetunion gilt – selbstverständlich russlandtreu. Wir verzichten auf einen Besuch in Tiraspol, der selbst ernannten Hauptstadt eines Landes, das von keinem anderen Land der Welt als solches anerkannt wird. Ein eingefrorener Konflikt, der jederzeit wieder aufflammen kann, wenn Russland es nur will. Wer weiß schon, was die Zukunft bringt…
Am jüdischen Friedhof von Kischinau werfen wir einen Blick zurück in die Vergangenheit. Bis zur Jahrhundertwende 1900 war Kischinau eine jüdisch geprägte Stadt. Pogrome, Kriege und ein Erdbeben haben die Stadt seitdem nicht nur physisch, sondern auch kulturell zerstört. Heute berühren uns die Vielzahl an verfallenen Grabstätten und die Ruinen der ehemaligen Synagoge. Eine Mitarbeiterin notiert unsere Namen in ein Gästebuch: Хельмут und Ива. Nicht für die Statistik, wie sich herausstellt, sondern weil sie sich freut, wenn sich jemand für den Friedhof interessiert.
Besuch im Nationalpark Orhei
Bevor wir Moldawien wieder Moldawien sein lassen, machen wir noch einen Ausflug in den einzigen Nationalpark des Landes, den Nationalpark Orhei. Eine Marschrutka bringt uns in einer guten Stunde nach Trebujeni, das idyllisch inmitten eines kleinen Canyons liegt, geformt von dem Flüsschen Răut. In der Umgebung, die eher an eine geschützte Kulturlandschaft als an einen Nationalpark im österreichischen Sinne erinnert, finden wir Ruinen von Moscheen und Hamams, die von mongolischen und tatarischen Eroberern errichtet wurden, Höhlenklöster und nicht mehr benutzte Stollen. Unsere Füße treten dabei die ganze Zeit auf Muscheln, sie sind ein Überbleibsel des Urmeers Paratethys. Das Schwarze Meer, von hier nicht mehr allzu weit entfernt, erinnert noch heute daran.
Die Erleuchtung ereilt uns nicht in den stockfinsteren Klosterzellen in der Höhle, sondern am Esstisch: Unsere Gastgeberin, die 70-jährige Ljuba, verwöhnt uns mit gefüllten Weinblättern, Topfenpalatschinken und Kartoffelkuchen aus ihrem Rezeptbuch. Wenn wir glauben, dass wir endlich brav aufgegessen haben, serviert sie uns einen weiteren Teller mit Leckerbissen: „Das müsst ihr auch noch probieren.“ Essen nicht nur für den Körper, sondern auch für die Seele!
Dermaßen gestärkt, treten wir nach vier Tagen in Moldawien die Reise zurück nach Rumänien an, das sich mit Moldawien Sprache und Kultur teilt. Die vielen Graffiti „Moldoveni deci Români“ („Moldawier, also Rumänen“) weisen darauf hin, dass sich viele Menschen in Moldawien als Rumäninnen und Rumänen verstehen. Die Versuche, Moldawisch als eigene Sprache zu etablieren, waren dementsprechend auch nur eine Fußnote in der Sprachenpolitik des Landes. Wer genau schaut, kann aber gelegentlich rumänische Aufschriften in kyrillischen Buchstaben finden – ein Überrest dieser erfolglosen Bemühungen.
Sechs Stunden braucht der Zug von Kischinau ins rumänische Iași, eine Entfernung wie zwischen Wien und Salzburg. Der Zug – diesmal ein moderner Dieseltriebwagen – schleicht mit etwa 30km/h durch die bäuerlich geprägte Landschaft, hinzu kommt das Prozedere an der Grenze. Mehr als genug Zeit also, um die Eindrücke zu sortieren – und natürlich auch, um das eine oder andere Kreuzworträtsel zu lösen 🙂
Tipps
Übernachten: Die Vila Roz in Trebujeni können wir wärmstens empfehlen. In Kischinau haben wir eine Nacht im Hotel Familion verbracht, das ein ausgezeichnetes Frühstück im „GastHaus“ gegenüber anbietet.
Reiselektüre: Die moldawische Literaturszene ist hierzulande nicht sonderlich präsent, um es mal diplomatisch zu formulieren. Falls wer einen Tipp für mich hat, bitte melden! Stattdessen habe ich zwei Bücher rumänischer Autorinnen gelesen: „Die nicht sterben“ von Dana Grigorcea und „Der König verneigt sich und tötet“ von Herta Müller.
Kreuzworträtsel: Ich liebe die Rätsel der Gruppe phoenixen, die u.a. in der Tageszeitung Der Standard zu finden sind. Große Empfehlung zum Um-die-Ecke-Denken!
Podcast: Kischinau kommt in der 9. Folge meiner Radiosendung „Die Stadt in dir“ vor. Hier kannst du reinhören!
Warst du, liebe Leserin, lieber Leser, schon einmal in Moldawien? Wie hat es dir gefallen? Hinterlasse gerne einen Kommentar mit deinen Erlebnissen!