Irgendwann im Laufe des Frühjahrs beschlossen Judith und ich, ein Wochenende im August für eine Radtour zu reservieren. Meine erste mehrtägige Radtour! Schnell hatten wir uns für den Traisentalradweg entschieden, der von Wien aus gut erreichbar ist und für seine landschaftlichen Kontraste gepriesen wird. Zudem führt die Strecke von Mariazell aus fast nur bergab. Die Sommerwochen vergingen wie im Flug und schon war es soweit: Auf nach Mariazell!
Spirituelles Aufwärmen in Mariazell
In St. Pölten verstauten wir unsere Räder in die großzügigen Garnituren der Mariazellerbahn. Mit vollem Einsatz sprintete Judith noch zur Bäckerei, um uns Schokocroissants zu kaufen – eine ausgezeichnete Idee, denn die Fahrt dauerte gut zweieinhalb Stunden. Anfangs führte die Strecke lange durch eine Ebene – beinahe hätte ich mich schon gefragt, warum hier eine ausgewiesene Gebirgsbahn notwendig ist. Aber dann schraubte sich die Bahn höher und immer höher den Berg hinauf. Schließlich waren wir da! Vom Bahnhof waren wir binnen weniger Minuten im Stadtzentrum von Mariazell, wo die alles dominierende Basilika auf uns wartete.
Wir hatten es beide nicht eilig, mit dem Radfahren zu beginnen. So ließen wir uns ausreichend Zeit, um Mariazell zu erkunden: die gedämpfte Ruhe in der Basilika, die prunkvolle Gnadenstatue, die Wärme in der Kerzengrotte, die bunten Flaggen überall, die Souvenirständchen, den Kreuzweg und die Quelle mit dem Heilwasser…
Die spirituelle Atmosphäre in Mariazell zog uns regelrecht in ihren Bann. Nach einer Jause im Schatten eines Baumes mussten wir uns aber doch losreißen. Na gut, ein kleines Lebkucheneis war noch drinnen. Aber dann hieß es wirklich: Auf ins Unbekannte!
Achtung, starkes Gefälle!
Gleich auf den ersten Metern schlug uns ein unangenehmer Wind entgegen. Aber bald ging es in steilen Serpentinen bergab in den Wald hinein und vom Wind war nicht mehr viel zu spüren. Dann zweigte der Radweg von der Straße links in den Rechengraben ab. Hier begegnete uns eine Pilgergruppe, erkennbar an einem großen geschmückten Kreuz, die uns freundlich grüßte.
Durch den Graben ging es länger einen idyllischen Bach entlang. Unserem Gefühl nach floss der Bach aber in die falsche Richtung und wir waren verwirrt. Dann fanden wir heraus, dass es sich gar nicht um die Traisen handelte – tatsächlich waren wir noch fast 50 Kilometer von den Ufern der Traisen entfernt! Dennoch waren wir begeistert von dem Streckenabschnitt entlang des Baches, der uns schließlich zum Hubertussee führte.
Wir radelten gemütlich durch diesen warmen Augustnachmittag. Dann aber, nach der Ortschaft Ulreichsberg, folgte ein anstrengendes Stück über die Passhöhe Gscheid. Kurz bevor wir dachten „So, aus, es reicht, wir schieben jetzt!“, war die Steigung geschafft. Ab da ging es tatsächlich nur noch bergab.
Nach der Passhöhe legten wir in Kernhof eine Pause ein. An dem skurrilen Kameltheater konnten wir einfach nicht vorbei! Leider hatte der Privatzoo bereits zu, und so konnten wir uns nur den eigenwilligen Souvenirladen – voller Kamele natürlich – anschauen. Tatsächlich soll der Zoo mit seinen weißen Tieren aber sehr sehenswert sein. Beim nächsten Mal dann!
Nach Kernhof folgte ein weiterer schöner Streckenabschnitt entlang und durch den Wald. Wir waren mittlerweile voll aufgewärmt und hätten wohl ewig so dahinfahren können, wenn da nicht die Frage nach dem Abendessen und einer Unterkunft gewesen wäre…
In der hübschen Gemeinde St. Aegyd am Neuwalde machten wir einen kurzen Halt, aber wir wollten unbedingt noch ein paar Kilometer machen.
So fuhren wir weiter bis Hohenberg, wo wir ein halbwegs akzeptables Abendessen und nach einigen Telefonaten sogar eine sehr nette Pension fanden. Die Pension hatte eine Terrasse, von der aus ich in der lauen Abendluft den klaren Sternenhimmel betrachten konnte. Auf einem Hügel in der Nähe war eine beleuchtete Ruine zu sehen. Ab und zu flog eine Sternschnuppe durchs Bild. Kaum vorstellbar, dass es am nächsten Tag regnen sollte!
Durch die Kaltfront
Leider fanden wir in der Früh wirklich einen bewölkten Himmel vor, der sehr verdächtig nach Regen aussah. Wir gingen es deshalb gemütlich an und frühstückten erst einmal ausgiebig. Irgendwann machten wir uns dann aber doch auf den Weg.
Den wabernden Nebelfetzen über den dunkelgrünen Hängen konnten wir durchaus etwas abgewinnen, den vielen Schnecken am Radweg eher weniger. Bei Freiland, das für sein Feld- und Industriebahnmuseum bekannt ist, stießen wir dann – endlich, endlich – auf die Traisen. Von hier dauerte es nicht mehr lange in die Bezirkshauptstadt Lilienfeld.
Im Stift Lilienfeld
Kaum hatten wir Lilienfeld erreicht, begann es zu tröpfeln. Wir stellten uns nach einem Blick auf den Regenradar auf eine längere Pause ein und verstauten die Räder vor dem berühmten Zisterzienserstift. Das Gepäck und uns selbst machten wir so wasserdicht wie möglich. Zum Glück öffnete gerade das Stift seine Pforten und wir unternahmen eine ausführliche Besichtigung der Kirche und des Kreuzgangs. Das Stift liegt an dem traditionellen Wallfahrer*innenweg zwischen Wien und Mariazell, der Via Sacra, und besitzt eine prächtige goldene Inneneinrichtung. Gerade als wir uns den barocken Prunk und eine gruselige Reliquie ansahen, setzte plötzlich das mächtige Spiel der Orgel ein.
Danach kehrten wir in der Konditorei gegenüber dem Stift ein. Ich hatte seit der Früh so starkes Bauchweh, dass ich all die ausladenden Torten und Kuchen in der Vitrine ignorieren musste. Während es draußen in Strömen regnete, fühlte ich mich fast ein bisschen elend. Gestrandet in Lilienfeld!
Die Traisen im Tal
Irgendwann hatten wir keine Lust mehr, auf das Ende des Regens zu warten. Wir legten noch einen Zwischenstopp bei der Tankstelle ein, um die Reifen aufzupumpen, und holten uns im Supermarkt nebenan eine Jause auf Vorrat. Dann hörte der Regen wirklich auf und wir fuhren viele Kilometer durch eine zunehmend flacher werdende Landschaft. Die bewaldeten Hügel links und rechts machten immer mehr Platz für Mais- und Getreidefelder. Auch die Traisen breitete sich aus.
Kurz vor St. Pölten kamen wir plötzlich in eine dystopische Landschaft, auf die wir uns zunächst keinen Reim machen konnten. Dann fanden wir heraus, dass hier das Festivalgelände vom Frequency war, das in den Tagen davor stattgefunden hatte. Kilometerlang sahen wir auf den Wiesen, dem Flussufer und auch in der Traisen selbst Tonnen von Müll – Bierdosen und Plastikflaschen, Zelte und Matratzen, Sessel und Unterlagen. Eine ganze Festivalausrüstung hätte man da rausklauben können!
Endlich kamen wir nach St. Pölten, wo wir – für das extra bisschen Kontrast – durch das sterile Regierungsviertel fuhren. Etwas außerhalb der Stadt fanden wir eine Bank am Traisenufer und legten eine Pause ein. Ich hatte noch immer ziemlich starke Bauchschmerzen und alles war irgendwie feucht und kalt vom Regen. Brr! Dennoch beschlossen wir, noch bis Traismauer durchzuhalten. Judith telefonierte ein bisschen herum und schon bald hatten wir eine günstige Pension gefunden.
Lange fuhren wir danach durch eine sanfte Aulandschaft, deren Idylle nur vom Lärm der Schnellstraße nebenan gestört wurde. Kurz vor Traismauer erreichte ich meine körperlichen Grenzen: War ich ohnehin schon den ganzen Tag von Schmerzen gepeinigt, bekam ich plötzlich noch Nasenbluten und Schwindelgefühle dazu. Ich war völlig erschöpft. Zum Glück waren es nur noch wenige Kilometer zur Unterkunft, die ich halb in Trance zurücklegte. In der Pension konnte ich mich sofort hinlegen und bekam eine heiße Wärmeflasche – der größte Luxus nach diesem Tag!
Auf Kriemhilds Spuren
Am nächsten Tag fühlte ich mich deutlich besser. Nach dem Frühstück packten wir unsere mittlerweile wieder getrockneten Sachen zusammen und machten uns auf den Weg. Die Vorstellung, sich wieder einen ganzen Tag lang nur auf das Radfahren konzentrieren zu können, bei schönerem Wetter und besserer Gesundheit – einfach großartig!
Zunächst mussten wir natürlich Traismauer erkunden. Am Stadttor beeindruckte uns eine Stelle aus dem Nibelungenlied. Als sich die schöne Kriemhild hier aufhielt, sorgte sie für so einen Rummel, dass sich der Staub auf den Straßen Traismauers tagelang nicht niederlegte.
Wir fanden ein anderes Traismauer vor: Es war ganz still, als wir den historischen Kern der Stadt entdeckten. Nur ein paar Leute standen vor der Kirche beisammen.
Von hier war es nicht mehr weit zu den Ufern der Donau. Vor lauter Begeisterung merkten wir gar nicht, dass wir die Traisen lange vor ihrer Mündung verließen.
Geschafft!
Wir waren an dem offiziellen Endpunkt des Traisentalradwegs angekommen, 111 Kilometer von Mariazell entfernt. Was für ein Gefühl!
Flusswechsel
Der Donauradweg war uns beiden gut vertraut. So wussten wir auch um die Langeweile, die uns auf der schnurgeraden Strecke bald überkommen würde… Aber dann bog der Radweg nach rechts ab und wir überquerten noch einmal kurz vor ihrer Mündung die Traisen!
Danach waren wir bald beim AKW Zwentendorf. Seltsam, ich hätte schwören können, dass es bei meinem ersten Besuch voriges Jahr auf der anderen Seite der Donau war… Wir machten eine längere Pause und ich erzählte Judith davon, wie faszinierend-unheimlich die Besichtigung des „sichersten Atomkraftwerks Europas“ damals war. Wie gut, dass der mächtige Reaktor nie in Betrieb gegangen ist!
Nach Zwentendorf verlief der Radweg über eine längere Strecke im Hinterland. Und dann waren wir auch schon in Tulln, wo wir uns am Hauptplatz in die Sonne setzten und ein feines Mittagessen bestellten. Anschließend trennten sich unsere Wege: Judith fuhr mit dem Zug zurück nach Wien, ich folgte weiterhin der Donau.
Ab Tulln war mir alles sehr vertraut: die lange Lacke von Langenlebarn, die Auwälder, die vielen Gasthäuser und die wildblühenden Wiesen vor dem Kraftwerk Greifenstein. In Kritzendorf machte ich einen Abstecher zum Strombad, das an diesem Sonntag beinahe menschenleer war. Ich hatte zwar meine Badesachen im Gepäck, verzichtete aber gerne auf die Kälte der Donau.
In einem Anfall von Übermut kehrte ich nicht auf den Radweg zurück, sondern folgte dem Treppelweg direkt neben der Donau. Das letzte Mal, als ich hier fuhr, zwang mich ein Hochwasser zu einem kilometerlangen Umweg. Diesmal kam ich weiter, allerdings war nach einiger Zeit das Radfahren verboten. Macht nichts, dachte ich – endlich Zeit, die eigenartige Architektur am Donauufer zu studieren!
Nach den spirituellen Momenten in Mariazell und Lilienfeld fand ich hier neben der Donau noch einen weiteren Ort zum Innehalten.
Die Vorstellung, Gebete in alle Winde zu verstreuen, fand ich schön. Ich nahm sie mit auf die letzten paar Kilometer nach Wien und zurück in meinen Alltag, in dem ich gestärkt und gekräftigt auftreten konnte: Von nun an hatte ich Mariazell bis Wien in den Beinen!
Fazit
Weg: Mariazell > Hubertussee > Ulreichsberg > Passhöhe Gscheid > Kernhof > St. Aegyd am Neuwalde > Hohenberg > Innerfahrafeld > Freiland > Lilienfeld > Traisen > Rotheau > Wilhelmsburg > St. Pölten > Herzogenburg > Traismauer > Donauufer > Zwentendorf > Langenschönbichl > Tulln > Langenlebarn > Greifenstein > Höflein > Kritzendorf > Klosterneuburg > Wien Heiligenstadt
Strecke: ca. 180 Kilometer
Zeit: drei Tage
Urteil zum Traisentalradweg: Gut ausgebaute und ausgezeichnet beschilderte Radwege, ab und zu auch Straßen. Ausreichend Infrastruktur, allerdings sind die Pensionen oft schon von Pilgergruppen ausgebucht. Proviant mitnehmen! Viel Natur und Stille – wir begegneten kaum anderen Radfahrer*innen. Die Strecke ab Mariazell führt fast nur bergab oder in der Ebene. Die umgekehrte Richtung ist vermutlich reizvoller, weil die Landschaft nach Mariazell hin immer schöner wird, aber die knapp 1.000 Höhenmeter sollten nicht unterschätzt werden – eine Wirtin erzählte uns von Leuten, die bei der Passhöhe Gscheid streikten und umdrehten 😉
Erste Etappe: Mariazell – Hohenberg, 46 Kilometer
Zweite Etappe: Hohenberg – Traismauer, 63 Kilometer
Dritte Etappe: Traismauer – Wien, 70 Kilometer