Warschau, Vilnius, Krakau!

von Stadtstreunerin | Eva

Wenn eine Band auf Europa-Tournee geht, liegt es nahe, für ein Konzert in eine andere Stadt zu reisen. Ganz nach dem Motto: Europa-Tournee können wir auch! So haben Helmut und ich uns im Mai auf den Weg gemacht, um das Rammstein-Konzert in Vilnius zu besuchen. Dazu gibt es eine Vorgeschichte: Letzten Sommer waren wir in Tallinn und sind unvermutet an Rammstein-Fans geraten, die in höchsten Tönen von dem Konzert am Tag davor geschwärmt haben. „Ein einmaliges Erlebnis!“ Also habe ich Karten für die nächste Gelegenheit besorgt.

Das Konzert in Vilnius ein knappes Jahr später sollte dann tatsächlich einmalig werden. Aber eher in dem Sinne, dass die Missbrauchsvorwürfe gegenüber manchen Bandmitgliedern nach genau diesem Konzert – dem Auftakt der „Europa Stadion Tour 2023“ – zu schwer wiegen, als dass ein weiterer Konzertbesuch noch vertretbar wäre. Um das Konzert soll es im Folgenden aber gar nicht gehen, sondern natürlich um das Stadtstreunen am Weg hin und zurück. Die Reise nach Vilnius hat im Frühling stattgefunden, mit Zwischenstopps in Warschau und Krakau, und hat uns in jeder Stadt eine andere Jahreszeit präsentiert. Nur der Frühling selbst hat ausgelassen!

Vilnius, wir kommen!

Winter in Warschau 

Der direkte Nachtzug von Wien nach Warschau war bereits ausgebucht. Kein Problem für den Eisenbahninsider unter uns: Helmut bucht einfach Fahrkarten für den Nachtzug von Prag nach Warschau, wir steigen in der tschechischen Stadt Kolín zu. Am nächsten Morgen bin ich froh, dass ich meinen Wintermantel eingepackt habe. Er füllt zwar den halben Rucksack aus, aber in Warschau brauche ich ihn – dringend sogar. Es ist ungemütlich kalt und windig, als wir vom Bahnhof Warszawa Centralna auf den benachbarten Kulturpalast zusteuern. Der Kaffee im Nachtzug war nicht stark genug, wir brauchen noch ein bisschen Adrenalin, um ganz in der Stadt anzukommen. Die Aussicht von der Plattform des Kulturpalasts in 114 Metern Höhe macht uns dann auf einen Schlag munter.

Guten Morgen Warschau!

Palast ist noch ein nettes Wort für diesen phallischen Bau, der zwischen 1952 und 1955 von Stalins Gnaden errichtet wurde, aber Kultur gibt es darin wirklich zur Genüge. Das Gebäude beherbergt vier Theater, drei Museen, ein Kino und weitere Einrichtungen; die Aussicht von oben kann sich ebenfalls sehen lassen. Zwischen den vielen Wolkenkratzern Warschaus erkennen wir die weite Landschaft, in der die Stadt eingebettet ist. Kein Berg verstellt den Horizont. Was andere als langweilig empfinden, ist für mich eine willkommene Abwechslung; außerdem liebe ich die polnischen Wälder und Sümpfe, die wir noch kurz davor mit dem Zug durchquert haben. 

Eine Stadt als Museum

Später spazieren wir in die Innenstadt von Warschau, die sich zwischen den vielen Neubauten duckt. Dabei ist das historische Zentrum selbst ein einziger Neubau, es wurde nach dem Zweiten Weltkrieg originalgetreu wiedererrichtet. Was in anderen Städten, etwa in Danzig, gut funktioniert, erzeugt hier das Gefühl, durch ein Museum zu schlendern. Wir fragen uns: In welchem Zustand baut man eine Stadt wieder auf? Wohl in ihrem besten oder idealen Zustand, ohne bröckelnde Fassaden und Risse im Mauerwerk. Warum dabei das urbane Flair verloren geht, können wir nicht so recht beantworten. „It’s for the tourists“, erklärt uns Krzysztof, ein polnischer Kollege von Helmut, den wir abends treffen. Das eigentliche Leben in Warschau spielt sich anderswo ab: zwischen stark befahrenen Straßen, zugewucherten Innenhöfen und der Weichsel, deren träge Wassermassen die Stadt in zwei Hälften teilen.

Weltstadt Warschau

Am zweiten Tag bekommen wir ein besseres Gefühl für die Stadt, als wir ihre modernen Highlights besuchen. Dazu zählt der Dachgarten der Universitätsbibliothek, der zum Erholen einladen würde, wäre es nicht so kalt. Nebenan befindet sich ein ehemaliges Kraftwerk, die Elektrownia, die mit interessanten architektonischen Mitteln in die heutige Zeit geholt wurde. Wir finden darin ein indisches Lokal, dessen Mitarbeiterin Helmut eindringlich davor warnt, die schärfste Curry-Variante zu probieren. Ich beobachte ihn: Er fängt nicht einmal zu schwitzen an. Ein abgebrühter Typ!

Krzysztof macht uns darauf aufmerksam, dass viele Wohnbauten aus der Gründerzeit ungewöhnlich hoch sind. Erst da richten wir unseren Blick nach oben und bemerken, dass die Wolkenkratzer von Warschau historische Vorläufer haben. In einem Innenhof in der Nähe unseres Quartiers finden wir ein verlassenes Gebäude, das uns vom Warschau von früher erzählt. Sagen wir so: Es dürfte sich schon damals nicht um die charmanteste Stadt gehandelt haben…

Bei dem Spaziergang durch das ruhige Wohnviertel fällt uns eine kleine Imbissbude auf, die mit einer dunkelgrünen Flagge geschmückt ist. Helmut erkennt sie sofort: Er war schon einmal in Turkmenistan. Da müssen wir hinein! Der Besitzer erzählt uns, dass er aus der Ukraine geflüchtet ist, so wie viele seiner Landsleute. Das winzige Lokal lebt von jungen turkmenischen Männern, die hier deftiges Essen und Cola aus Plastikbechern konsumieren. Wir mischen uns darunter, bestellen auf Russisch, hören Turkmenisch und reden Deutsch. Warschau, die Weltstadt! (Ich bin danach noch tagelang satt.)

Sommer in Vilnius

Es ist nicht das erste Mal, dass ich mit dem Zug nach Litauen fahre, aber trotzdem komme ich jedes Mal wegen der Zeitumstellung durcheinander. Die Fahrt dauert entweder länger oder kürzer als gedacht, je nach Fahrtrichtung. Ich schaue in Helmuts akribisch notierten Reiseplan und denke mir: „Hä?“ Aber solange der Zug in Richtung Nordosten fährt, wird es schon passen! Ab Białystok fällt mir auf, dass nur noch Menschen in kurzärmeligen Outfits einsteigen. Vorsichtshalber verstaue ich den Wintermantel. Und als wir am frühen Abend Vilnius erreichen, sind wir im Sommer angekommen. 

Guten Abend Vilnius!

Klare Ansagen in Vilnius

Die Tage in Vilnius fühlen sich luftig an, was vielleicht auch an dem Gewand liegt, das ich hier trage: Sommerkleider und leichte Schals reichen völlig aus. Wir spazieren den Vilnia-Bach entlang und erkunden das künstlerische Viertel Užupis an seinen Ufern. Der Stadtteil hat sich selbständig gemacht und sogar seine eigene Verfassung, wonach alle Menschen, die sich hier aufhalten, in Frieden leben dürfen. Vilnius ist die vielleicht entspannteste Hauptstadt Europas, denken wir, als wir auf einen Kaffee einkehren, offene Bücherschränke durchstöbern und in Galerien hineinlugen. 

Trotzdem ist Vilnius ganz schön laut, wenn es um Politik geht. Das Land positioniert sich deutlich für die Ukraine, gegen Russland. Dass jeden Tag ein russischer Zug durch Vilnius fährt, macht auf schmerzhafte Weise bewusst, dass Litauen zwischen der russischen Exklave Kaliningrad und dem russischen Vasallenstaat Belarus eingeklemmt ist. Doch die Stadt weiß sich zu wehren: Der Bahnsteig, an dem der Zug von Kaliningrad nach Moskau hält, ist mit Bildern der russischen Kriegsverbrechen zugepflastert. Darauf steht geschrieben: „Sind Sie damit einverstanden?“ Das Bahnhofsbeisl Peronas lässt die Zugreisenden mit einem großen Poster wissen: Слава Україні! Wir stoßen mit einem Bier darauf an und schmieden (theoretische) Pläne für eine Reise in die Ukraine.Das Wasserschloss kann warten 

Bevor wir abends das Konzert im Vingio Parkas, dem großen Park im Westen von Vilnius, besuchen, machen wir einen Ausflug nach Trakai. Eine halbe Stunde Zugfahrt von Vilnius entfernt lädt eine ausgedehnte Seenlandschaft dazu ein, noch mehr zu entspannen. Mittendrin, auf einer Insel, die nur über eine weitere Insel zu erreichen ist, befindet sich das Wasserschloss Trakai. So wie die Innenstadt von Warschau wurde auch dieses Schloss nach alten Plänen wieder aufgebaut. Heute ist ganz Litauen stolz darauf, was sich in den Menschenmengen widerspiegelt, die zum Schloss streben. Beim nahen Lokal herrscht aber auch ordentlicher Andrang, und das, obwohl es mit dem blasphemischen Slogan „The castle can wait“ um Kundschaft wirbt. Auf uns kann das Schloss jedenfalls nicht warten!

Eine Besichtigung lohnt sich, selbst wenn das Schloss keinen Aussichtsturm bietet. Wir erfahren hier mehr über die ehemals mehrsprachige Bevölkerung von Trakai. Hier lebten seit der Zeit des litauischen Großfürsten Vytautas (1354-1430) Menschen unterschiedlichster Kulturen und Religionen zusammen: Karaimer:innen, Tatar:innen, Deutsche, Jüdinnen und Juden, Litauer:innen, Russ:innen. Heute sind davon nur noch ein paar Straßen- und Ortsnamen übrig. Das Dorf Keturiasdešimt Totorių südlich von Vilnius heißt etwa übersetzt „Vierzig Tataren“. Eine Synagoge steht auch noch mitten in Trakai, leider ist sie nicht öffentlich zugänglich.  

MO wie Moderne Kunst

Neben dem Rammstein-Konzert, dem eigentlichen Anlass dieser Reise, geht sich noch ein Kurzbesuch im MO Museum aus. Als ich das letzte Mal in Vilnius war (2015), gab es den schicken weißen Bau noch nicht; das Museum wurde erst 2018 eröffnet. Im ersten Geschoss sehe ich eine ganze Reihe Gips-Abdrücke von Gesichtern, quasi umgekehrte Selfies, die mich auf irritierende Weise anstarren. Im zweiten Geschoss wartet eine beeindruckende Ausstellung moderner litauischer Kunst auf mich, deren Gliederung an den dystopischen Roman „Vilnius Poker“ von Ričardas Gavelis angelehnt ist. Auf meine Leseliste kommt aber ein anderes Buch: Im Museumsshop finde ich drei Kurzgeschichten über das multikulturelle Vilnius der bekannten Schriftstellerin Kristina Sabaliauskaitė („Vilnius, Wilno, Vilna. Three Short Stories“). Ein bisschen Vilnius zum Mitnehmen!

Herbst in Krakau

Der Rückweg ist lange, und das nicht nur wegen der Zeitumstellung. In Mockava, dem verschlafenen Grenzbahnhof an der polnisch-litauischen Grenze, warten wir über eine Stunde auf den Anschlusszug nach Krakau. Die Lokomotive hat den Dienst verweigert, eine neue muss her. Wir vertreiben uns die Zeit damit, neben dem Bahnhofsgebäude in der Wiese zu liegen und in den blau-weißen Himmel zu schauen. Soll Schlimmeres geben!

Danach rollen wir stundenlang durch die polnischen Wälder. Ich zähle dabei die Störche, die auf den Feldern nach Nahrung suchen. Wieder passieren wir die schönen Seen bei Augustów, in denen ich eines Tages schwimmen möchte, und in Białystok taucht die untergehende Sonne alles in ein weiches Licht. Hier habe ich bei einer Reise ins Baltikum einmal übernachtet; seitdem weiß ich, dass der Erfinder der Kunstsprache Esperanto, Ludwik Zamenhof, aus Białystok stammt. Er wollte eine Sprache schaffen, die die vielsprachige Bevölkerung vereint und niemanden benachteiligt. Eine schöne Idee, die leider nicht ganz aufgegangen ist: Heute unterhalten wir uns mit den Mitreisenden auf Englisch.

Ein Spaziergang durch die Königsstadt

Bis wir in Krakau ankommen, ist es nicht wie geplant Mitternacht, sondern bereits zwei Uhr früh. Es regnet, wir eilen durch die herbstlich-feuchte Luft zu unserem Hotel, um endlich schlafen zu können. Am nächsten Morgen haben wir einige Stunden Zeit, bevor der Zug nach Wien geht. Wir kennen Krakau schon von einem früheren Besuch im vergangenen November. Damals haben wir angesichts des eisigen Wetters geschimpft: „Das nächste Mal kommen wir im Mai!“ Tja, jetzt sind wir im Mai in Krakau – und was haben wir davon? Genau: Ich packe wieder den Wintermantel aus.

Nach den vielen Eindrücken der letzten Tage gehen wir es ruhig an: Kein Museum, auch kein Konzert, nur die Stadt! Krakau ist vom Massentourismus entdeckt worden – leider, muss man mittlerweile sagen – und anstrengend genug. Wir umgehen gekonnt die vielen Pseudo-Attraktionen (z.B. das Spiegel- und Laser-Labyrinth, das sich wohl eher an Junggesellen-Runden richtet) und sehen großzügig über die Agenturen hinweg, die einen Besuch im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz bewerben, als wäre es ein Ort wie jeder andere auch.

Stattdessen spazieren wir gemütlich über den riesigen Hauptmarkt (Rynek Główny), besuchen die ehrwürdige Wawel-Burganlage, in der jahrhundertelang die Könige gekrönt wurden, und blicken hinunter auf die Weichsel – so wie in Warschau. Der berühmte Drache von Krakau lässt uns an Vilnius denken, er speit gekonnt Feuer und erinnert uns damit an die pyrotechnischen Einlagen bei dem Rammstein-Konzert. Mit seiner 4,6-Sterne-Bewertung auf Google Maps dürfte er aber beliebter sein als die Band!

Eine Verbindung nach Wien gibt es auch: in Form des direkten Zuges, der uns am Nachmittag in weniger als sechs Stunden zurück nach Hause bringt. In Wien finden wir übrigens auch den Frühling wieder! 

Danke fürs Mitreisen und bis zum nächsten Mal auf Stadtstreunen.at! 

Warst du, liebe Leserin, lieber Leser, schon in Polen und Litauen unterwegs? Was hast du dabei erlebt? Teile es gerne in den Kommentaren! 🙂 


Weiterlesen & Tipps

Mehr auf Stadtstreunen.at: Hier kannst du mehr über meine Reisen nach bzw. durch Polen und Litauen lesen: https://stadtstreunen.at/mit-dem-zug-von-wien-nach-umea-der-schwedenplan/ (Polen, 2022), https://stadtstreunen.at/dzien-dobry-ein-morgen-in-danzig/ (Polen, 2022), https://stadtstreunen.at/unterwegs-im-weissen-land/ (Litauen & Lettland, 2019).

Kulinarische Tipps: In Litauen unbedingt die kalte Suppe Šaltibarščiai mit Roten Rüben und Eiern bestellen. Mein liebstes Essen! Und in Polen gehören natürlich Pierogi auf den Tisch. 

Kunstmuseum in Vilnius: https://mo.lt/

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