Mit einmal Umsteigen von Wien nach Tunesien: mit dem Nachtzug nach Genua, mit der Fähre weiter bis Tunis. Das war der gewagte Plan, den ein befreundetes Paar – Bernhard und Maria – im Jänner 2023 umgesetzt hat. Uns war sofort klar: Das müssen wir auch probieren! Zahlreiche Fotos, Tipps und Ermutigungen später sind Helmut und ich tatsächlich auf der Fähre der CTN (Compagnie Tunisienne de Navigation) und fahren Afrika entgegen.
(Was wir beim Umsteigen in Genua erlebt haben, könnt ihr hier nachlesen.)
Achtung, das wird eine richtig lange Reisereportage, die aber nach den wichtigsten Stationen geordnet ist: Fähre – Tunis – Karthago & Sidi Bou Saïd – Mahdia & El Djem – Tozeur, Chebika & Tamerza – Tataouine, Ksour, Douiret & Chenini – Gabès – Zug nach Tunis – Fähre.
An Bord der Carthage
Ich war wochenlang aufgeregt wegen dieser Reise, und jetzt ist es einfach nur langweilig: Stundenlang können wir zuschauen, wie draußen das gebirgige Sardinien vorbeizieht. In den schönen blauen Wellen ist kein einziger Delfin zu sehen, nicht einmal eine Möwe begleitet uns. Wir schauen uns die Inneneinrichtung des Schiffes an, der Carthage – Baujahr 1999. Die Treppe hinauf zur Lounge hat sogar einen Design-Preis gewonnen, aber was mir mehr gefällt, ist die liebevolle Verzierung des Treppengeländers mit weißen Papiersackerln. Nur für den Fall, versteht sich! In der Lounge wird geraucht, die Luft ist richtig dick. „Was hast du gedacht“, fragt mich Helmut, „wir verlassen Europa!“ Bye bye allgemeine Sicherheitsstandards und Gesundheitsvorsorge (abseits von Speibsackerln)…
Beim Abendessen klirren die gestapelten Teller, so hoch ist der Seegang. Er schaukelt uns ordentlich durch die Fähre, aber die Kellner servieren unbeeindruckt Couscous mit Gemüse, Salat mit Thunfisch, Orangen, Zitronenkuchen. Verstohlen beobachten wir ein tunesisches Ehepaar, das uns gegenüber sitzt. Stimmt es, dass sie nicht mit der linken Hand essen, wie es im Reiseführer steht? Die Frau rückt mit der rechten Hand den Schleier zurecht, greift mit der linken nach dem Brotkorb. Vielleicht haben wir auch zu viele Vorstellungen im Kopf, wie es in der arabischen Welt ist.
Während wir uns vorsichtig verhalten (eingeschüchtert?), geht es an den Tischen rundherum deutlich profaner zu. Eine große Gruppe Rallye-Fahrer aus Polen, Deutschland und anderen Ländern unterhält sich lautstark über ihre Pläne, auf 2.000 Kilometern die tunesische Wüste zu durchkreuzen. Unter die vielen Männer – die meisten übergewichtig, große Tattoos, Hemden mit Palmenmotiv – mischen sich ein paar wenige Frauen. Was sie antreibt, erfahren wir nicht, außer große Motoren, natürlich. Und ein Helikopter, der auf einem LKW die Fähre verlässt. (Ein Helikopter. Auf einem LKW. Auf einer Fähre!)
Wieder in Afrika
Bonsoir Afrique! Zum ersten Mal seit über zehn Jahren betrete ich nach 24 Stunden auf der Fähre afrikanischen Boden. Damals, im Sommer 2012, war ich in Burkina Faso, das südlich der Sahara liegt und zu den ärmsten Ländern der Welt gehört. Tunesien, ein Land des Maghreb, ist sicherlich ganz anders, stelle ich mir vor: Ich kenne viele, die in Tunesien Urlaub machen oder sogar hierher ausgewandert sind, während es kaum jemanden nach Burkina Faso verschlägt. Und ich stelle es mir nicht nur vor, ich hoffe es auch sehr nach den verstörenden Erfahrungen, die ich seinerzeit in Burkina gemacht habe: angefangen von einem cholerischen Reiseleiter bis hin zu einem bewaffneten Überfall mitten in der Nacht. Aber vergessen wir das. Neue Reise, neues Glück!
Die Einreise gestaltet sich aber schon einmal als Hürde: Die Grenzpolizisten möchten wissen, wo ich arbeite. „Beim Radio“, gebe ich wahrheitsgemäß an. „Aha, eine Journalistin also…“ Prompt werde ich skeptisch gemustert, die Beamten debattieren aufgeregt auf Arabisch und wollen den Namen des Senders wissen. Schließlich bekommt mein Pass doch einen Stempel. Dann überprüft eine Mitarbeiterin noch mein Gepäck und beschnuppert argwöhnisch mein kleines Seepferdchen (bekannt vom Winterschwimmen), aber es besteht den Test. Na dann: Willkommen in Tunesien!
Tunis, oh Tunis!
Die ersten drei Nächte verbringen wir in einem Hotel in der Altstadt von Tunis, der Medina. Das Hotel ist von einer architektonischen Schönheit, die mich umwirft: die klaren Formen und Farben, der ruhige Innenhof, die Dachterrasse, unser ovales Zimmer, geschmückt mit einer arabischen Zierleiste. Eine Mitarbeiterin serviert uns das Frühstück: „Merci“, sagen wir jedes Mal, wenn sie gekochte Eier bringt, Gewürzbrot, Palatschinken und Gemüse. „De rien“, antwortet sie jedes Mal mit sanfter Stimme. Ich fühle mich hier so ruhig und geborgen wie in einem Kloster.
Ein Kontrast zu allem anderen, was in Tunis passiert: Durch die engen, oft überdachten Gassen der Medina schieben sich die Menschen, Händler sprechen uns an, Kinder wuseln herum. Über uns Teppiche, vor uns Gewürze, dazwischen scheuchen wir immer wieder eine der zahlreichen Straßenkatzen auf. Wir sehen, hören, riechen so viel auf einmal, dass es mir fast die Sinne zerreißt. Ein Mann passt auf eine Schildkröte auf, im Lokal daneben werden gegrillte Schafsköpfe serviert, „Bonjour! Hello! Deutschland?“, tönt es mal von links, mal von rechts, und fast hätten wir einen Teppich gekauft, nur weil wir auf eine Dachterrasse gestiegen sind.
Ein paar Straßen weiter ist es dagegen ganz ruhig. Der südliche Teil der Medina ist fast menschenleer; der Streifzug durch die weißen Gassen mit den bunten Fensterläden gehört zu dem schönsten Stadtstreunen, das ich je erlebt habe. Der Reiseführer empfiehlt, diesen Teil der Medina zu meiden, aber uns passiert nichts: Dafür sorgt eine Frau, die mich mit eindringlichen Gesten darauf hinweist, dass ich meine Tasche vorne tragen soll und nicht auf der Seite.
Plötzlich sind wir wieder mittendrin im Gewimmel, diesmal in einem Markt, der jenen Bedarf an Haushaltswaren deckt, der über Teppiche und kupferne Teller hinausgeht. Begehrt sind vor allem Second-Hand-Kleidungsstücke aus Europa („Fripe“) und bunter Plastikkram. Westliche Ketten à la H&M oder Starbucks sucht man hier vergeblich: Tunesien hat aufgrund komplizierter politischer Entwicklungen kaum Anschluss an globale Trends.
Mit der Straßenbahn zur Synagoge
Die ersten paar Meter im tunesischen Schienennetz legen wir mit der Straßenbahn zurück. Wir lassen uns von der gesteckt vollen, grünen Garnitur ein paar Stationen bis Bab El Khadra mitnehmen und schauen, was dort passiert. Souvenirstände sind jedenfalls keine zu finden! Wir schlagen uns durch bis zur großen Synagoge von Tunis. „Sind Sie jüdisch?“, fragt uns der schwer bewaffnete Sicherheitsbeamte, der das quadratische Gebäude mit dem großen Davidstern bewacht. Wir verneinen, er schickt uns trotzdem zum Fleischer gegenüber und trägt uns auf, diesen nach dem Schlüssel zu fragen. Während ich eine Antwort abwarte, betrachte ich den Namen der Fleischhauerei: Die hebräischen Buchstaben wurden (wohl mit Gewalt) weggemeißelt, nur auf der Markise sind sie noch zu lesen. Schließlich erfahren wir, dass der Mann mit dem Schlüssel gerade nicht da ist – schade!
Tunis erscheint mir immer wieder vertraut, dann völlig fremd. Die französisch geprägte Architektur rund um die arabische Medina, die westlich gekleideten Frauen, die moderne Straßenbahn stehen im Kontrast zu dem unübersichtlichen, hektischen Straßenverkehr, dem vielen Müll (oh weh, das große Müllproblem), den mitunter sehr einfachen Verhältnissen und den Blicken, die wir überall einfangen. Ich dachte, Tunesien sei touristisch geprägt und seit der Revolution 2011 ein offenes Land, aber das war wohl etwas naiv. Wir werden mal neugierig, mal misstrauisch beäugt; auf jeden Fall fallen wir auf.
Wo ist Karthago?
Am nächsten Tag stehen touristische Highlights an, die wir einfach nicht auslassen können: die Ruinen von Karthago und das pittoreske Dorf Sidi Bou Saïd nordöstlich von Tunis. Karthago ist mir noch aus der Schulzeit ein Begriff – ich hatte lange genug Lateinunterricht, um dem berühmten Ausspruch Ceterum censeo Carthaginem esse delendam („Im Übrigen stelle ich den Antrag, dass Karthago zerstört werden muss“) zu begegnen, der Cato dem Älteren zugeschrieben wird. Aber wo sich dieses Karthago befindet, hätte ich niemals erraten: Es ist heute ein nobler Vorort von Tunis, gut erreichbar mit der Vorortelinie TGM. Reisen bildet eben!
Was ich auch nicht wusste: Karthago wurde mehr als einmal zerstört. Zuerst von den Römern im Jahr 146 v. Chr. – nach den drei Punischen Kriegen -, dann von den Arabern Ende des 7. Jahrhunderts. Aus der prächtigen Stadt, zu römischer Zeit eine der größten im Mittelmeerraum, wurde ein Steinbruch. Heute sind die historischen Ausgrabungen eine Sehenswürdigkeit, allerdings so zahlreich und weit verstreut, dass wir uns gar nicht alle anschauen können. Am spektakulärsten sind die römischen Antoninus-Thermen direkt am Mittelmeer – zu Recht sind sie UNESCO-Weltkulturerbe. Wir spazieren fast ganz alleine durch das Erdgeschoss der ehemaligen Therme, die zu den größten der antiken Welt gehört, und versetzen uns zurück in eine Zeit des prunkvollen Entspannens.
Bei unserer weiteren Erkundung wandern wir durch eine noble, weitgehend abgeschottete Siedlung – in der Gegend befindet sich nicht nur der Präsidentenpalast, auch die tunesische Oberschicht ist hier zuhause. Zwischen den schönen Villen werfen wir einen Blick auf punische Fundamente, dann wieder aufs türkisblaue Meer. Wir stellen fest: Die Menschen in der Antike hatten ein außerordentlich gutes Gespür für die schönsten Orte rund ums Mittelmeer. Heute sind es die Besserverdiener:innen, die davon profitieren.
Sidi Blue Saïd
„Früher oder später kommen alle Touristen nach Sidi Bou Saïd, weil es schön ist“, schreibt der österreichische Journalist Gerald Drißner etwas abschätzig über das Künstlerdorf. So landen auch wir hier: Weil es schön ist. Aber Sidi Bou Saïd ist mehr als das: ein kitschiger Traum in Blau und Weiß, ein fast schon unwirklicher Ort. Ich bin auch nicht die Erste, die darüber ins Schwärmen gerät: Im April 1914 waren die drei Maler Paul Klee, August Macke und Louis Moilliet im Rahmen ihrer später als „Tunisreise“ bekannten künstlerischen Reise hier. Das intensive Licht, die klaren Formen, die strahlenden Farben haben sie zu Malereien inspiriert, die in die Kunstgeschichte eingegangen sind. Könnten wir länger in dem kleinen Dorf hoch über dem Golf von Tunis bleiben, wer weiß: Vielleicht würden wir auch zu malen anfangen.
Motive gäbe es genug, auch abseits des fantastischen Blau und Weiß des Ortes: Ich würde vielleicht die Kaffeebar malen, in der Menschen unter Lichterketten sitzen, die Palmen und Kaktusfeigen, die Berge jenseits des türkisen Meeres. Ich würde den alten Mann malen, der „Lasciatemi cantare“ singt, nach einem Palmwedel greift und ihn als Gitarre einsetzt: „Con la chitarra in mano!“ Ich würde die zwei Mädchen malen, die über ihn lachen und im Takt mitklatschen. Und natürlich würde ich den schönen Bahnhof malen und den seltsam asymmetrischen Zug, der uns in der Dämmerung zurück nach Tunis bringt.
Auf in die Sahelzone
Am nächsten Tag besteigen wir erstmals einen tunesischen Zug, der uns in etwa zweieinhalb Stunden nach Sousse bringt. Die Landschaft verwandelt sich langsam von blühenden Wiesen in immer karger werdende Felder und Olivenhaine. Uns gegenüber sitzt ein freundlicher Mann um die 70, der aus dem Irak stammt und hier Urlaub macht. Er spricht Polnisch und Englisch, weil er lange mit einer Polin verheiratet war und jetzt in London lebt. Wenn er gerade nichts sagt, verschmilzt er mit seiner Umgebung: Ausgestattet mit Schlapfen und Plastiksackerl, fällt er kaum auf – im Gegensatz zu uns mit den schweren Rucksäcken und Kameras! Während wir beobachtet werden, beobachten wir auch selbst: ein Mädchen etwa, das trotz der frühlingshaften Temperaturen in einen rosa Schianzug gehüllt ist. Die Kleine quengelt und schreit, bis ein Passagier ihr ein Zuckerl zusteckt: „Für dich“, deutet er.
In Sousse wechseln wir den Bahnhof: Für die Weiterfahrt nach Mahdia nutzen wir die Vorortelinie, die Metro du Sahel. Die Hinweise, dass wir im Sahel sind, verdichten sich. Dabei habe ich in der Schule gelernt, dass die Sahelzone südlich der Sahara liegt. Burkina Faso lässt grüßen! Wie sich herausstellt, heißt diese Region in Tunesien „Sahel“. Merke: Sahel nicht gleich Sahelzone.
Der Zug passiert unendlich viele Olivenbäume und Häuser, die mit den architektonischen Schönheiten von Sidi Bou Saïd nicht ganz mithalten können. Er ist so voll, dass wir die meiste Zeit stehen müssen. Ich finde mich inmitten von Schüler:innen wieder, die gerade französische Texte studieren. Zu hören ist rundherum aber nur Arabisch, so wie überall sonst auch. Zwar ist die ehemalige Kolonialsprache immer noch sehr weit verbreitet, aber als Umgangssprache (außer mit uns Touris) taugt sie nicht – im Gegensatz zum vielsprachigen Burkina Faso, wo das Französische nach wie vor eine Art Lingua Franca darstellt.
Mah, Mahdia!
Der Küstenort Mahdia liegt einzigartig auf einer Halbinsel, die ins Mittelmeer ragt. Beim Frühstück auf der Dachterrasse unseres kleinen Quartiers sehen wir Meer links und Meer rechts. Der Himmel ist blau, das Meer ist blau, die Häuser sind weiß. Ein tunesischer Traum, der seine Ursprünglichkeit bewahren konnte. Die „Zone touristique“ mit ihren Hotels und Sandstränden ist weit vom Zentrum entfernt; in den Gassen von Mahdia gibt es Werkstätten und Bäder wie anno dazumal. Eine Gruppe von Mädchen bringt sich gegenseitig das Radfahren bei: Ein breiter Radweg direkt am Meeresufer lädt dazu ein.
An der Spitze der Halbinsel befindet sich ein großer islamischer Friedhof. Die weißen Gräber und die zwei kleinen Bauten mit ihren Kuppeln, die Aufbahrungshallen, bilden einen malerischen Kontrast zu dem tiefblauen Meer und dem roten Leuchtturm. Aber wieder einmal ist es das Licht, das uns zu begeistern vermag: Der Sonnenuntergang ist unwirklich schön, wie ein orange-rosa Vorhang. „Tunesische Polarlichter“, scherzen wir, bevor wir in einem Lokal auf eine Pizza einkehren. Der Kellner bringt Helmut eine Platte voll Thunfisch: viel Thunfisch auf ein bisschen Pizzaboden.
Von Mahdia aus bietet sich ein Ausflug nach El Djem an, das mit einem Sammeltaxi (Louage) in etwa einer Stunde erreichbar ist. Die Stadt im Landesinneren ist weithin bekannt für ihr sehr gut erhaltenes Amphitheater aus römischer Zeit. Hier komme ich erstmals dazu, für ein paar Dinar auf ein Kamel zu steigen. Es schaukelt nicht weniger als auf der Fähre. Ein echtes Wüstenschiff!
Wir verbringen den ganzen Tag hier, mischen uns unter die Männer, die ihre Zeit im Kaffeehaus totschlagen, plaudern mit dem Kellner eines Restaurants und besuchen das lokale Museum, das mit wunderschönen Mosaiken und Ausgrabungen glänzt. Auf einmal ist laute Blasmusik zu hören: Eine bunte Prozession zieht am Amphitheater vorbei, darunter ein Clown, ein Weihnachtsmann und Mickey Mouse. Einige der teilnehmenden Kinder haben das Down-Syndrom, sie halten eine riesige Tunesien-Fahne und strahlen um die Wette. El Djem que j’aime steht auf einer Wand. Dem können wir uns nur anschließen!
Eine lange Reise in die Wüste
Als Nächstes steht uns ein Reisetag bevor: Die Wüstenstadt Tozeur liegt etwa 400 Kilometer von Mahdia entfernt. Mit einem Louage geht es zunächst nach Sfax, dann weiter nach Gafsa. Es herrscht ein großer Trubel. In Sfax warten wir fast eine Stunde, bis wir endlich zum Schalter gelangen, um uns eine Fahrkarte kaufen zu können. Ich beobachte einen jungen Mann, der mitten im Gedränge steht und seelenruhig an seinem Kaffee nippt. Danach zündet er sich eine Zigarette an. Der Anblick macht mich tiefenentspannt, selbst als wir dann erfahren, dass wir am falschen Schalter gewartet haben. Wie sich herausstellt, ist das kein Problem: Ein Polizist nimmt sich unser an und bestellt uns in seine Wachstube, die im Louage-Bahnhof untergebracht ist. Wenige Minuten später werden wir mit einem Ticket in der Hand entlassen.
Die Fahrt ist lang und eintönig, zumindest landschaftlich: Es wird immer karger. Wir passieren eine langgezogene Bergkette, die nicht aussieht, als würde sie auch nur einem Tier eine Heimat bieten können. Abgesehen von Skorpionen und Schlangen vielleicht! Etwas Spannendes gibt es aber doch zu sehen: Schienen. Bis Tozeur verläuft eine Bahnstrecke, die hauptsächlich von Güterzügen genützt wird. In der tunesischen Wüste wird Phosphat abgebaut und in Waggons bis in die Industriezentren an der Küste transportiert. Ob es auch (noch oder wieder?) Personenverkehr gibt, finden wir beim besten Willen nicht heraus – diese Herausforderung heben wir uns für das nächste Mal auf. (Dafür lesen wir alte Fahrpläne aus den 1990er Jahren, als es noch Zugsverbindungen bis nach Marokko gegeben hat. Wo sind die Zeiten hin?)
In Gafsa steht die Sonne schon tief. Es ist zu spät, um noch ein Sammeltaxi nach Tozeur zu erwischen – das Louage-System ist nur bis zum Nachmittag einigermaßen verlässlich. Wir finden aber rasch einen privaten Fahrer, der uns für 100 Dinar – umgerechnet 30 Euro – durch die Wüste fährt. Es gerät zu einem Abenteuer: Im Kofferraum befindet sich eine Gasflasche als Treibstoff, das hoffnungslos zerlemperte Auto riecht nach Gas. Der Fahrer zündet sich als Erstes gleich mal eine Zigarette an und fährt in die falsche Richtung. Aber uns bleibt nichts anderes übrig, als ihm zu vertrauen. Als er Musik macht, rhythmische arabische Musik, uns sein Heimatdorf Mdihlla zeigt, und einen Zwischenstopp einlegt, um uns Kaffee zu bringen, wird es nach und nach richtig gemütlich in der rostigen Karre. Er hat nicht den falschen Weg eingelegt, sondern einen Umweg, der uns näher an die Wüste bringt als die Schnellstraße via Métlaoui. Außerdem kommen wir an mehreren Phosphatfabriken vorbei. Am eindrucksvollsten ist es aber, als wir eine ganze Herde von Kamelen sehen, eines der Tiere hat ein Jungtier im Schlepptau. Entzückend!
Wir glauben, am Ende der Welt angelangt zu sein, als wir nach zwei Stunden Fahrt heil und ganz in Tozeur aus dem Auto steigen. Aber dem ist nicht so: Auf der Hauptstraße rauscht unaufhörlich der Verkehr, und wenige Meter von unserem Hotel finden wir ein Lokal mit italienischer Küche. An der Wand hängen Bilder vom Eiffelturm. Zum dritten Mal in Folge esse ich Pizza, das einzige vegetarische Gericht auf der Karte, aber ich bin so hungrig, dass es mich nicht weiter stört. Eine Gruppe Frauen betritt das Lokal und bestellt große Portionen Fleisch, die fröhlich verspeist werden. Alle tragen einen Schleier um den Kopf, nur die Kellnerin nicht.
Tozeur, mon cœur
In der Nacht reißt es mich: Wo sind wir hier gelandet? Und das von Wien aus? Wie absurd ist das? Ich fühle mich so verloren wie nie. Der Verkehrslärm hält mich noch lange wach, in der Früh weckt uns ein Hahn. Zum Frühstück gibt es trockenes Baguette, salzig schmeckenden Kaffee und, wohl unabsichtlich, ein rohes Ei. Wir klauen uns vom bereits verlassenen Nebentisch ein gekochtes Ei. Kleine Vögel flattern in den Frühstücksraum und picken die Krümel auf.
Nach dem schwierigen Start gefällt es mir in Tozeur besonders gut. Wir besichtigen den verlassenen Bahnhof, wo weit und breit kein Zug fährt. Da müssten wir schon nach Métlaoui, sagt uns ein junger Mann. Er stellt sich vor als Chef de gare, zuständig für einen Bahnhof, an dem nichts passiert. Trotzdem hält er die Stellung und zeigt uns jedes Detail dieses wunderschönen Gebäudes. Das melancholische Lied „I treni di Tozeur“ von Franco Battiato passt so gut zu der Stimmung, dass es fast weh tut.
Wie der Rest von Tozeur ist der Bahnhof mit gelben Ziegeln erbaut, die so in das Gemäuer gesteckt sind, dass sie Schatten werfen: Diese Bauweise, die im extrem heißen Wüstensommer die Gebäude kühlt, gibt es nur in Tozeur und Umgebung. Auch die Medina ist so gebaut. Wir wandeln durch die gelben Gebilde und genießen ihre Schatten, es hat schon 25 Grad.
Am schönsten ist aber der Palmenhain von Tozeur. Wir schrecken Wiedehöpfe auf, seit Langem meine liebsten Vögel, und hören noch lange ihr typisches „Up, up, up“. Die Palmen bilden einen eigentümlichen Wald mitten in der Wüste. Das viele Grün strömt eine Ruhe aus, die mich den Hain ganz bedächtig durchstreifen lässt. Da blüht etwas gelb, dort hängen Granatäpfel in einem Strauch, und am Boden liegen Datteln. Hier wächst die Sorte „Deglet Nour“, die in den österreichischen Supermärkten zu kaufen ist. Einen Moment lang denke ich an das sichere, saubere Leben im Überfluss. Wie weit weg ist Europa!
Ausflug in die Sahara
Am Nachmittag nehmen wir an einer organisierten Tour teil, die uns in die Bergoase Chebika, zum Wasserfall bei Tamerza und in die Wüste zu den Star-Wars-Kulissen bringt. Es ist heiß und staubig, die kleinen Gewässer zwischen den Felsspalten sind eine willkommene Abkühlung. Eine junge Tunesierin spricht mich an: „Bist du das erste Mal hier?“ Ich nicke. Sie sei auch das erste Mal in Chebika, erzählt sie, obwohl sie ihr ganzes Leben in Tunesien verbracht habe. Wir sind uns einig, dass uns bisher etwas entgangen ist. Ich kann nur immer wieder staunen: „Unglaublich!“
An Souvenirständen preisen junge Männer ihre Waren an. Während ich bei den Teppichen standhaft war, kann ich hier nicht widerstehen: Es gibt Fossilien aus der Wüste, Sandrosen, glitzernde Steine, das ist genau meins. (Leider, das sind die schwersten Souvenirs!) Wir kommen mit Aisha ins Gespräch, einer jungen Frau, die in Großbritannien als Physiotherapeutin arbeitet. Sie reist alleine durch Tunesien und leistet uns ein wenig Gesellschaft. Wir sind neugierig: Hat sie ihre religiöse Zugehörigkeit – sie ist Muslimin – dazu genützt, um sich die prächtigen Moscheen anzuschauen, die uns verschlossen bleiben? Später gehen wir gemeinsam essen und plaudern weiter. Zu unserem großen Erstaunen gibt es in dem Lokal Bier und Wein! Das Bier wird in schwarzen Bechern serviert, damit niemand sieht, dass wir uns versündigen.
Davor geht es aber noch in die „richtige“ Wüste, dort, wo nur noch Sanddünen sind. Mit der eigentlichen Sehenswürdigkeit – den Kulissen der Star-Wars-Filme – fange ich weniger an als mit dem Drumherum: die weite Landschaft, der weite Himmel! Im Sand befinden sich unzählige Steinsplitter, die das Licht reflektieren. Zwischen den einfachen Bauten aus weißem Gips tummeln sich die Touristenfänger: Ich kann mich nicht wehren, schon befinde ich mich wieder auf einem Kamel. Marcel heißt das Kamel, erklärt mir der gewiefte junge Bursche und führt uns auf eine Sanddüne. Aisha winkt mir von einem anderen Tier aus zu: „I was forced onto a camel as well,“ lacht sie.
Im wilden Süden: Tataouine
Von Tozeur geht es weiter nach Tataouine. Wir passieren ein Gelände, das auf Google Maps blau eingezeichnet ist, aber schon lange kein Wasser mehr führt: Der Chott el Djerid ist vielmehr ein ausgetrockneter Salzsee. Die Straße verläuft schnurstracks über die braun-weiße Ebene. Fata Morganas bleiben aus, weil wir in einen Sandsturm geraten: Der Wind weht Sand wellenartig über die Straße, die Sicht beschränkt sich auf wenige Meter. Der Fahrer schaltet das Warnlicht ein, aus dem Nichts kommen uns blinkende Autos entgegen. Später, als wir die Sandwüste wieder verlassen haben, legen wir einen kurzen Halt in einem winzigen Dorf ein. Der Fahrer holt sich Kaffee von einem Lokal, ich suche das WC auf. Kein Problem: Die Toiletten in Tunesien sind fast immer vorbildlich sauber.
In Gabès steigen wir um und verbringen noch viel mehr Zeit in einem Louage. Mittlerweile sind wir routiniert: Fahrkarte kaufen, einsteigen und sich in die schweigende Gruppe einfügen. Je weiter wir in den Süden vordringen, desto schläfriger werde ich: Alles sieht gleich aus. Der Boden ist ockerfarben, die Gebäude sind ockerfarben, der Himmel ist ockerfarben. Zzz…
Als ich wieder zu mir komme, sind wir in Tataouine gelandet – einer Stadt, deren Name dem Wüstenplanet Tatooine in den Star-Wars-Filmen Pate gestanden ist. Südlich von hier ist nicht mehr viel: Die Wüste im Süden Tunesiens ist großteils militärisches Sperrgebiet und nicht zugänglich. Rund um Tataouine gibt es aber zahlreiche Sehenswürdigkeiten, die ihresgleichen suchen! Douiret, ein verlassenes Berber-Dorf, wird unser Stützpunkt für die kommenden Tage. Bernhard und Maria haben ein paar Monate vor uns hier übernachtet und eine große Empfehlung ausgesprochen. Zu Recht, wie sich bald herausstellt.
Wohnhöhlen und Speicherburgen
Ein junger Mann zeigt uns das Quartier in Douiret: eine Höhle, die in den Berg gehauen ist. Es wirkt anfangs eng, ist aber unendlich gemütlich und heimelig, vor allem, wenn es draußen stürmt. Abends bekommen wir tunesische Gerichte serviert, die hier noch besser schmecken als sonst: Brik, Linseneintopf, Salat, Datteln, Orangen. Abgesehen vom Wind, der an den Fensterbalken rüttelt, herrscht hier eine heilige Ruhe. Ich schlafe tief und traumlos.
Am nächsten Tag suchen wir in Tataouine einen Taxifahrer, der uns zu drei verschiedenen Speicherburgen in der Umgebung führt. Speicherburgen – noch nie gehört! Es sind eigenartig geformte Bauwerke der Berber, die den nomadisch lebenden Menschen früherer Zeiten als Lager gedient haben. Ich bin fasziniert von den architektonischen Formen, die an Bienenwaben erinnern und aus demselben Material wie der Boden bestehen. Bis zu fünf Stöcke hoch sind die Lagerräume (Ghorfas) übereinander angeordnet.
Zwei der drei Ksour, wie die Burgen heißen (Singular: Ksar), sind verwaist. In der ersten Burg sind wir ganz alleine, in der zweiten blickt eine Katze von hoch oben auf uns herab und ein Mann führt seine Scheibtruhe über den Hof. In der Ortschaft Ksar Ouled Soltane, die ein bisschen mehr auf Tourismus ausgelegt ist, treffen wir auf einen Maler, der hübsche Aquarelle von diesen außergewöhnlichen Bauten anfertigt. Wir testen einen braunen Filzmantel, der bis zu den Knien reicht: das traditionelle Gewand der Berber in der kühleren Jahreszeit. Die Wolken am Himmel wirken richtig schwer von dem Staub, den der Wind in höhere Luftschichten geweht hat. Hier ist er also her, der Saharastaub, der uns oft im Frühjahr einen Besuch in Mitteleuropa abstattet.
Wieder zurück in Tataouine, machen wir uns auf die Suche nach einem Restaurant. Sämtliche Gaststätten, die im Reiseführer genannt werden, sind mittlerweile geschlossen. Das einzige offene Lokal besteht aus einem langgezogenen, sehr dunklen Raum mit Fernseher an der Wand, in dem wir die einzigen Gäste sind. Ein Menü gibt es auch nicht: Der Kellner erklärt uns mündlich, welche Speisen zur Auswahl stehen (hauptsächlich Couscous). Eine junge Frau lugt aus der Küche und betrachtet uns neugierig. Sobald ich hinschaue, lächelt sie und wendet sich ab: für mich ein Sinnbild für die tunesischen Frauen und Mädchen, die in der Öffentlichkeit oft unsichtbar bleiben. Das Essen schmeckt viel besser, als das schäbige Lokal es erahnen lassen würde, und wir zahlen für zwei Hauptspeisen und Getränke umgerechnet gerade mal fünf Euro.
Wandern im Dahar-Gebirge
Die Landschaft hat mich längst in ihren Bann gezogen, alle Ängste („Wir werden in der Wüste entführt werden!“) sind abgelegt. Zeit für ein kleines Abenteuer: Wir wandern von dem Nachbardorf Chenini nach Douiret. Zuerst fahren wir per Taxi auf kurvenreichen, einsamen Straßen in das Berber-Dorf, das heute noch bewohnt ist und ein Touri-Magnet ist. Chenini beeindruckt nicht nur im Allgemeinen mit seiner herausragenden Lage, sondern auch im Besonderen: Wozu Menschen imstande sind! Sie haben dieser lebensfeindlichen Gegend alles für ein einfaches, früher sehr abgeschiedenes Leben abgerungen und kämpfen weiterhin um ihre Existenz. Selbst die seit Jahrhunderten erprobten Bewässerungssysteme geraten an ihre Grenzen, wenn kein Regen fällt. Der Klimawandel setzt auch den genügsamsten Palmen und Olivenbäumen zu.
Wir gehen es diesmal entspannt an und erkunden jeden Winkel von Chenini, bevor die Wanderung losgeht. Bald kommen wir zur Moschee der sieben Schlafenden mit ihrem windschiefen Minarett: die einzige Moschee in ganz Tunesien, die wir besichtigen dürfen (sie wird schon lange nicht mehr sakral genützt). Wieder überkommt mich eine heimelige Ruhe. Dieses Raumgefühl! Ein junger Mann namens Anis zeigt uns die Schätze der Moschee. Er ist ein fröhlicher Kerl, der uns bittersüßen Tee serviert und in höchsten Tönen von Chenini spricht: Er brauche nicht reisen, denn die ganze Welt komme zu ihm. Abends kehre er heim, spiele mit den Kindern und labe sich am Couscous. „Tête tranquille“, sagt er und deutet auf seinen Kopf. Das einfache Leben in der traditionellen Wohnhöhle bietet außerdem einen unschätzbaren Vorteil: Sommers wie winters herrscht in der Höhle dieselbe Temperatur, etwa 20 Grad.
Als wir endlich richtig mit der Wanderung beginnen, folgen wir einem nicht markierten Weg durch die öde Landschaft. Das klingt abenteuerlicher, als es ist: Wir befinden uns auf dem Dahar Hiking Trail, dem ersten nach internationalen Standards errichteten Wanderweg in Tunesien. Die Etappe von Chenini nach Douiret ist außerdem überschaubar, es sind nur acht Kilometer. Die Wanderung verlangt vor allem mir trotzdem einiges ab: Ich kann dem starken Wind kaum standhalten und lese leicht verzweifelt ein paar gemusterte Steine auf, um mich schwerer zu machen. Zuerst geht es steil bergauf, bis wir ein einsames Hochplateau erreichen. Nur ein paar Müllsackerl lassen darauf schließen, dass hier schon einmal Menschen entlanggegangen sind. Später steigen wir durch einen Canyon bergab, in dem einige Palmen und Olivenbäume wachsen. Es ist die wohl eigenartigste Landschaft, in der ich je wandern war, und ich muss mich erst daran gewöhnen. Bei unserer Rückkehr in Douiret schmiede ich dann aber schon Pläne für eine mehrtägige Tour… Beim nächsten Mal!
Das Wüstenschiff strandet
Ich bin richtig traurig, dass wir schon zurückfahren müssen, aber was soll’s: In der Reiseplanung mussten wir uns nicht nur an den Fährplänen orientieren (nur an bestimmten Tagen fahren Schiffe nach Italien), sondern auch am Ramadan. Der islamische Fastenmonat legt das Land weitgehend lahm und wir wollen davor zurück nach Europa. Das gelingt aber nicht: Eine ganze Verkettung unglücklicher Umstände sorgt dafür, dass wir von Tataouine nicht rechtzeitig nach Gabès kommen, um den vormittäglichen Zug nach Tunis zu nehmen – der Nachmittagszug fällt wegen des Ramadans ersatzlos aus. So stranden wir also in Gabès. Ich finde mich rasch damit ab: Eine Expedition namens Wüstenschiff darf ruhig auch mal stranden, oder nicht?
Damit aber noch nicht genug: Auch unsere Fähre nach Salerno fällt aus und wir müssen noch einmal umdisponieren. Diese Abfolge an Pleiten, Pech und Pannen kostet uns viel Geld und ruiniert unsere weiteren Reisepläne. Ein Umstand, der den sonst so stoischen Helmut dermaßen bedrückt, dass ich ihn richtig trösten muss: „Wir schaffen das!“ Tatsächlich betreten wir zwei Tage später das Schiff, das uns zurück nach Europa bringt – aber bis dahin erleben wir auch noch einiges!
Zuerst verbringen wir den Tag in der Industriestadt Gabès, die zwar am Mittelmeer gelegen ist, aber sich mehr zu den Palmenhainen orientiert, die direkt an das Stadtzentrum anschließen. Schon kurz nachdem wir die Stadt und ihren Müll hinter uns gelassen haben, wandern wir durch Palmenwälder und kommen zu einem Bauernhof mit drei schwarz-weiß gefleckten Kühen. Ein Mann weist uns freundlich den Weg durch das winzige Grundstück. Später treffen wir auf eine Frau, die gleich ihre Kinder zu sich ruft: Besuch aus dem Ausland! Ihr Sohn lotst uns auf verschlungenen Pfaden durch das Gebüsch. Er spricht ein gutes Englisch, die älteren Einwohner:innen des Palmenhains können sich dagegen nur mit einem Lächeln mit uns unterhalten.
Mit dem Zug von Gabès nach Tunis
Unser Hotel in Gabès ist wenig einladend (zwei Kakerlaken sind im günstigen Preis inkludiert), aber immerhin haben wir ein Zimmer bekommen, ohne eine Heiratsurkunde vorweisen zu müssen – keine Selbstverständlichkeit in Tunesien. Die Nacht ist aber sowieso kurz, wir verlassen das Zimmer schon um halb fünf in der Früh, um den ersten Zug nach Tunis zu erwischen. Stockdunkel ist es: Die Lokomotive ist in der Finsternis kaum zu sehen, dafür umso lauter zu hören. Tuck-tuck-tuck… Wir gönnen uns als kleinen Trost eine Fahrt in der ersten Klasse und versinken in die samtigen Sitze. Die sechsstündige Fahrt nach Tunis ist trotz des Dieselantriebs recht ruhig, ich schlafe immer wieder ein. Helmut weckt mich, als die Sonne aufgeht: Dunkelrot erhebt sie sich über der Landschaft und taucht die Olivenhaine und Kakteen-Mauern in ein schönes Licht. Bald ist es ganz hell.
Später inspiziere ich den Zug, der mich in mehrerer Hinsicht beeindruckt: Zwischen zwei Waggons liegt der Maschinenraum, durch den ich einfach durchspazieren kann. Hier lässt sich die Eisenbahn noch richtig begreifen! Im Gepäckswaggon nebenan sind nicht nur die Fenster offen, sondern auch die Türen, und zentimeterdick liegt hier der Sand. Ein Schild klärt über den Umgang mit blinden und sehbehinderten Menschen auf. Das Beste am Zugfahren ist aber, dass die Landschaft rund um die Gleise nicht mit Müll verschandelt ist. Und: Wir sehen keine Fleischhauereien entlang der Straße, die mit den Köpfen geschlachteter Tiere um Kundschaft werben. Meine Magennerven danken!
Stattdessen haben wir Zeit, um uns verschiedene Strategien zu überlegen, wie das gerade noch funktionierende tunesische Eisenbahnwesen (wieder) sein volles Potential entfalten könnte: Von einem Taktfahrplan bis zur Social-Media-Kampagne („Wir schicken dich in die Wüste!“) fällt uns einiges ein. Leider will Helmut partout nicht von den ÖBB zur SNCFT wechseln…
Tunis im Ramadam
Nachdem die nächste Fähre erst einen Tag später fährt (leider nicht nach Salerno, sondern nach Genua), bleiben wir noch eine Nacht in Tunis und erleben dadurch mehr vom Ramadan als geplant. Es ist eine frustrierende Erfahrung: Alle Lokale und Cafés sind geschlossen, sogar jene mit westlichem Anstrich. Glücklicherweise finden wir ein großes Hotel, das Mittagessen serviert – ganze vier Gerichte stehen zur Auswahl. Wir sitzen im ersten Stock, gut abgeschirmt von der Außenwelt, und ich muss zum ersten Mal in Tunesien Fleisch essen, weil es einfach nichts anderes gibt. Eine Ironie, ausgerechnet im Fastenmonat!
Auf der Straße spricht uns ein Mann auf Deutsch an: „Im Ramadan sind Sie hier, oje! Da ist es für Touristen wirklich nicht einfach.“ Ja, das können wir nur bestätigen! Der abendliche Streifzug durch die Medina gerät zu einer bizarren Erfahrung, die uns an den Lockdown erinnert. So gut wie alle sind pünktlich zu Sonnenuntergang zuhause und feiern gemeinsam den Beginn des Ramadan. Wir wandern verloren herum. In einem der wenigen offenen Lokale sind wir fast ganz alleine, aber wenigstens gibt die Speisekarte alles her, was das Herz begehrt. Wir zelebrieren den letzten Abend in Tunesien mit Couscous aux légumes, Salade mechouia und Citronade. Hmm!
Fähre fährt!
Am nächsten Morgen sind wir schon um acht Uhr früh beim Fährterminal. Wir müssen uns gedulden, bis wir den ersten Kaffee trinken können, weil alles geschlossen ist. Unsere Erleichterung ist schon sehr groß, als wir sehen, dass es auf der Fähre keine Ramadan-Regelungen gibt. Kaffee! Croissants! Noch mehr Kaffee! (Tunesischer Kaffee kann qualitativ übrigens locker mit italienischem Kaffee mithalten.) Speibsackerl sind diesmal keine aufgehängt: Der Seegang ist so ruhig, dass der Golf von Tunis wie ein riesiger türkiser See wirkt. Wir sehen noch einmal Karthago und Sidi Bou Saïd von der Weite.
Auf der Carthage kennen wir uns inzwischen bestens aus. Wieder leisten uns die Rallye-Fahrer Gesellschaft, aber ein deutlich interessanteres Gespräch ergibt sich mit einem Schweizer Paar: Sylvie und Philippe haben in der Pension beschlossen, mit einem kleinen LKW auf Reisen zu gehen. Das Fahrzeug ermöglicht ihnen, fast völlig autark zu leben, und so waren sie wochenlang in der Wüste unterwegs. Nicht nur in Tunesien, sondern auch in Algerien! Während wir Spaghetti, Salat und Zitronenkuchen essen, löchern wir sie mit Fragen. „Das ist ja ein richtiger Wüstenpanzer“, sage ich, als mir Philippe ein Bild des Fahrzeugs zeigt. Damit liege ich gar nicht so falsch: Der LKW war früher im Kosovo im Einsatz, wurde danach umgebaut und für die individuellen Bedürfnisse adaptiert. Als Nächstes wollen die beiden Afrika von Norden bis Süden durchqueren. Dagegen können die Rallye-Fahrer wirklich einpacken!
Ansonsten hole ich auf der Fähre hauptsächlich Schlaf nach und lese meine Reiselektüre aus: „Weit ist mein Gefängnis“ der algerischen Schriftstellerin Assia Djebar (1936-2015), die über Frauen in der arabischen Welt schreibt. Ein besonders interessantes Buch, das unsere Begegnungen in Tunesien – hauptsächlich mit Männern – gut ergänzt. Bei der Ankunft in Genua sehen wir prompt die Fähre nach Algier. Das nächste Abenteuer lockt uns schon, wenn auch Algerien leider nicht so (relativ) einfach bereisbar ist wie Tunesien.
Vorerst gönnen wir uns aber die wundervolle Schönheit, Sicherheit und Sauberkeit Europas. Ich erlebe einen richtigen umgekehrten Kulturschock, weil mir auf einmal nichts mehr selbstverständlich vorkommt, und wandle noch tagelang träumerisch herum, bevor ich wieder richtig ankomme.
Was für eine Reise! Shukran Tunesien, bis bald!
Weiterlesen
Eindrücke aus Genua: https://stadtstreunen.at/genua-stadt-aus-licht-und-schatten/
Die beiden Deutschen Aga und Gunther waren zehn Wochen lang mit dem Fahrrad in Tunesien unterwegs (fast wären wir ihnen über den Weg gelaufen) – ein ausführlicher Bericht findet sich hier: https://vivaperipheria.de/2023/05/01/tunesien-auf-der-suche-nach-der-pointe/
Tipps & Infos
Folgende Unterkünfte können wir empfehlen: Dar El Medina (in der Medina von Tunis), Hotel Dar Ali (beim Hauptbahnhof in Tunis – Zimmer mit Gleisblick verlangen!), Dar Evelyne (in der Medina von Mahdia), Douiret Blue (Douiret).
Das Bardo-Museum in Tunis, ein archäologisches Museum von Weltrang, ist leider bis auf Weiteres geschlossen: http://www.bardomuseum.tn/
Informationen zum Dahar Hiking Trail: https://www.tunisiatourism.info/en/articles/grande-randonnee-dans-les-montagnes-du-dahar
Hier finden sich die Fahrpläne der Fähren: https://www.aferry.com/de-at/genoa/. Von einer Fahrt mit Grimaldi Lines raten wir entschieden ab. CTN ist deutlich verlässlicher!
Diese Doku des SWR gibt einen tollen Einblick in das tunesische Eisenbahnwesen: https://www.ardmediathek.de/video/eisenbahn-romantik/mit-dem-wuestenzug-durch-tunesien/swr/Y3JpZDovL3N3ci5kZS8xOTMxNDI5OA
Disclaimer: Die meisten Kamele in Tunesien sind eigentlich Dromedare, weil sie einen Höcker haben statt zwei. Wir sagen trotzdem Kamel zu ihnen („Kamö“). Die überall angebotenen Plüschkamele sind übrigens sehr liebe Souvenirs! Wir verstehen nicht, warum sie im Reiseführer als Allerweltsdinge gedisst werden.
Reiselektüre
Ben Khoud Faouzia (2020): Guide d’architecture Tunis. DOM Publishers.
Ben Ouezdou Hedi (2001): Entdecken Sie Südtunesien. Von Matmata nach Tataouine. Ksour, Djessour und Wohnhöhlen.
Djebar Assia (2000): Weit ist mein Gefängnis. Unionsverlag.
Drißner Gerald (2015): In einem Land, das neu beginnt. Eine Reise durch Tunesien nach der Revolution. DuMont Verlag. (Tipp: Der Autor zeichnet ein deprimierendes Bild von Tunesien – besser erst nach der Reise lesen!)
Kremer Simon (2023): Tunesien. Reiseführer für individuelles Entdecken. Reise Know-How Verlag.
Sehenswerter Film: Auf der Couch in Tunis. (Manele Labidi, 2019)
Und jetzt?
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2 Kommentare
Ein wunderschöner Reisebericht! Danke für die Eindrücke! Mit welchen Transportkosten ist bei so einer Reise ca. zu rechnen?
Danke! Für den Nachtzug nach Genua habe ich 92 Euro gezahlt und für die Fähre nach Tunis 187 Euro. Retour ähnliche Größenordnungen!