Eine Huldigung an den Dschungel – der Stadtwanderweg 9 im Prater

von Stadtstreunerin | Eva

Vor langer, langer Zeit machten sich zwei Freundinnen auf in einen Wald voll überbordendem Grün. Mitten in der Stadt, in der die beiden wohnten, befand sich ein Stück Wildnis, das bisher kaum erforscht war. Ausgerüstet mit Kamera, Kornspitzjause und Gelsenspray machten sie sich an einem schönen Sommertag auf den Weg, um den Dschungel kennenzulernen, ihn fotografisch zu dokumentieren und einen Plan zu erstellen.

Mit der U-Bahn fuhren die beiden zum Praterstern, einem hässlichen Platz im Nordosten der Stadt. Hier sogen sie noch einmal die abgasgetränkte Luft ein und marschierten dann ins Grüne. Bald wurden sie von einem Weg überrascht, auf dessen Seiten ein Kastanienbaum nach dem anderen wuchs. Die außergewöhnlich schön geordnete Baumreihe wurde sofort in ihrem Notizheftchen aufgezeichnet. Der Weg hatte eine eindeutige Richtung, der sie eine Zeit lang folgten. Dann gelangten die beiden zu einem kleinen Teich, auf dem sich Schildkröten auf kleinen Inseln sonnten und Enten vor sich hin quakten. 

Auf einer hübsch geschwungenen metallenen Brücke überquerten sie einen kleinen Bach. Dann stapften sie über mehrere ausgedehnte Wiesen und durch Wälder, in denen jahrhundertealte Bäume wuchsen. Auch mehrere umgestürzte Bäume waren zu sehen. Offenbar hatte kein Mensch je diese Wälder betreten, denn sogar seltene Vögel und Insekten fühlten sich hier wohl. Nach einiger Zeit gingen sie unter einer Brücke durch, deren Wände bunt bemalt waren. Staunend vermerkten die beiden Forscherinnen, dass es sich hierbei um einen Fall von künstlerischer Gestaltung der Ureinwohner – über die noch äußerst wenig bekannt war – handeln musste.

Dann wanderten sie geradeaus über eine weitere Wiese, bis der Dschungel die beiden vorübergehend entließ. Auf einem runden Platz befand sich das Lusthaus, ein Außenposten des Instituts zur Erforschung der Stadtwildnis. Die beiden Forscherinnen hinterließen bei der Portierin eine Grußkarte an ihre Kolleginnen und gaben dabei vorsichtshalber gleich bekannt, dass sie sich nun noch weiter ostwärts begeben würden.

Bald nach dem Lusthaus hüllte sie das Grün wieder ein. Sie stießen auf ein längliches, eher schmales Gewässer, dessen Uferbänke zu einer Rast einluden. Nachdem sie sichergestellt hatten, dass ihnen hier keine Gefahr drohte, begannen sie, es sich gemütlich zu machen. Sie kramten die Kornspitzjause aus dem Marschgepäck hervor und betrachteten beim Essen ihre bisherigen Aufzeichnungen. Es versprach ein wirklich eindrucksvoller Forschungstag zu werden! Mit dem Gelsenspray ausgerüstet, gelang es ihnen sogar, in dem stehenden Gewässer ihre Füße abzukühlen.

Danach gingen sie auf einem unwegsamen Pfad dem Ufer entlang. Bald entdeckten die Forscherinnen einen umgestürzten und längst morsch gewordenen Baumstamm, in dem dutzende graue Federn steckten. Ob es sich dabei um ein spirituelles Ritual der Ureinwohner handelte? Ein sensationeller Fund jedenfalls!

Am östlichen Ende des Gewässers befand sich ein kleiner Teich, in den umgestürzte Bäume ragten. Eines seiner Ufer war nicht von Schilf bedeckt; hier lagen Steine, auf denen man gut sitzen und die Wildnis beim Wildsein beobachten konnte. Die Forscherinnen bauten ihr Aufnahmegerät auf und hielten viele verschiedene Vogelstimmen auf Band fest; außerdem gelang es ihnen, aus mehreren Baumstämmen Proben zu extrahieren und in Glasdöschen mitzunehmen.

Danach schlugen die beiden eine andere Richtung ein und kämpften sich durch den dichtesten Urwald. Mittendrin fanden die beiden Forscherinnen ein Denkmal in Form einer Schleife, die aus rotblühenden Blumen gebildet wurde. Rundherum befanden sich weiße Steine, die mit Vornamen und Jahreszahlen beschriftet waren. Die beiden schlossen daraus, dass es sich um ein geheim gehaltenes Denkmal für die Opfer einer stigmatisierten Krankheit handeln musste, und hielten kurz inne.

Gleich daneben befand sich ein kleines Häuschen, dessen Wände von zahlreichen Gedenktafeln bedeckt waren. In der Mitte befand sich ein hölzernes Kreuz, auf dem sich die – ebenfalls hölzerne – Figur eines mageren Mannes erstreckte. Die Forscherinnen vermuteten, dass der in der Stadt übliche Glaube wohl auch unter den Ureinwohnern seine Anhänger hatte. 

Auf ihrem weiteren Weg durch die Wildnis sahen die beiden Forscherinnen erneut Bemalungen der Wände unterhalb einer Brücke. Sie stellten die These auf, dass die gemalten Tiere – allen voran pastellfarbene Eulen und ein riesiger Flamingo – irgendwo im Dschungel gesichtet worden waren.

Ein weiteres Bild zeugte davon, dass hier jemand existentielle Ängste ausgestanden hatte und vielleicht nie mehr in die Stadt zurückgekehrt war. Im Notizbüchlein erhielt diese Wandbemalung den Vermerk „Womöglich ein Kriminalfall?“. Dieser Spur mussten die beiden auf jeden Fall noch nachgehen!

Nun gingen die beiden Forscherinnen längere Zeit an einem weiteren schmalen, langen Gewässer vorbei. Ureinwohner hatten hier am Ufer eine kleine Hütte errichtet, die offenbar als Hafen diente. Ein Hinweis auf einen primitiven Handelsverkehr am Wasser?

Langsam kamen die beiden wieder in zivilisationsnahes Gebiet. Zwar waren sie durchaus mit tagelangen Märschen durch den Dschungel vertraut, aber sie freuten sich trotzdem über einen befestigten Weg.

Doch bald zeigte die Zivilisation ihr hässliches, ja feindseliges Gesicht. Am Rande einer großen Wiese wurden gerade neue Wohnungen gebaut, die den Dschungel einengen sollten. Die beiden wünschten den zukünftigen Bewohnern ganz viele Gelsen im Schlafzimmer und zogen weiter.

Bald landeten die beiden im gut erforschten und bereits genauestens dokumentierten Vergnügungspark, der unmittelbar an die Wildnis angrenzte. Sie machten einen Abstecher, um sich nach dem langen Marsch etwas zu erfrischen, und befanden, dass sich seit ihrer Kindheit nicht viel verändert hatte.

Zuletzt trafen die beiden Forscherinnen beim bekannten Riesenrad ein, das interessante Ausblicke über die Stadt und den Dschungel ermöglichte. Nun konnten die beiden von oben die weite grüne Fläche betrachten, die sie zuvor dokumentiert und erfasst hatten!


Fazit

Weg: Praterstern > schön geordnete Baumreihe > kleiner Teich > Wiese > nächste Wiese > übernächste Wiese > Wandbemalungen > Lusthaus, Außenposten des Instituts zur Erforschung der Stadtwildnis > Gewässer > Federn im Baumstamm > noch ein Gewässer > Rote-Schleife-Denkmal > weitere Wandbemalungen (Eulen und Flamingo) > Wiese > wieder ein Gewässer > Vergnügungspark > Praterstern

Strecke: 13,3 Kilometer

Zeit: 2 Stunden und 45 Minuten (reine Gehzeit)

Urteil: Der Dschungel wird für ungefährlich befunden und kann nun von der Allgemeinheit entdeckt werden. Der Anfang ist gemacht! Hier ist exklusiv die Karte zu sehen, die die beiden mutigen Forscherinnen anhand ihrer Aufzeichnungen angefertigt haben:

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