Wassercollagen

von Stadtstreunerin | Eva

1. Die Wahrnehmung der Welt

Halterbach, Wien


In der Nähe des Ufers sitzt eine Frau breitbeinig auf einer Bank. Ihre Haare sind zerzaust, das Kleid trägt sie mit den Nähten nach außen. Schräg vor der Bank steht ein Einkaufswagen mit ihrem Besitz, den sie eingehend bewacht. Laut krakeelend verschafft sie ihrem Ärger Luft, doch die Passanten ignorieren sie.

Es ist seit Wochen heiß in der Stadt, ich habe keine Kraft mehr, um an die Donau zu fahren. Stattdessen wende ich mich dem nahen Halterbach zu, der einige Kilometer lang durch den Wald fließt, bevor er in den Wienfluss mündet. Ich erkenne die krakeelende Frau wieder. Sie ist vor einigen Tagen in die Straßenbahn gestiegen, hat zu schimpfen begonnen und die Kinder rundherum verschreckt. Ein Mann hat gedroht, dass er die Polizei rufen wird, wenn sie nicht aufhört. Ich habe sie in ein Gespräch verwickelt, um sie abzulenken, und sie hat mir von Verbrechern und Prostituierten erzählt. Ihre Wahrnehmung der Welt deckt sich nicht mit der verbreiteten Sicht auf die Dinge. Es ist mir wichtig, ihr trotzdem zuzuhören. 

Jetzt aber möchte ich dem Bach zuhören. Was erzählt er von den Abhängen des Wienerwaldes, in denen er entspringt? Was verrät sein Plätschern und Gurgeln? Wie erlebt er die Welt? Der Halterbach nimmt die Welt ganz anders wahr als ich: Seine Wasser fließen über Kieselsteine, über moosbewachsene Felsen und durch künstliche Becken. Schimmernde Libellen umschwärmen ihn, Wasserläufer tanzen auf seiner hauchdünnen Oberfläche, sodass kreisrunde Wellen entstehen. Ich stapfe durch das Blätterdach der Bäume, die an seinem Ufer wachsen, durchquere einen Tunnel. Da, die Mündung in den Wienfluss: Der Halterbach plätschert ein letztes Mal über Steine, dann verwandelt er sich, geht über in ein größeres Ganzes.  


2. Die eigene Größe 

Stoissengraben, Saalfelden


Anfangs rauscht der Buchweißbach nicht laut genug, um die Autos und LKWs der nahen Bundesstraße zu übertönen. Sie strömen zwischen Saalfelden und Salzburg hin und her, genauso unablässig wie der Bach selbst, aber bei Weitem nicht so geruhsam. Nach und nach nimmt das Plätschern überhand, als ich über das Geröll an seinem Ufer stapfe. Der Bach hat sich ein breites Bett geschaffen, füllt es aber an diesem warmen Sommertag kaum aus. So habe ich ausreichend Raum, um Treibholz zu sammeln, die weißen Steine zu betrachten und darauf zu achten, wie es mir geht. 

Die hohen Felswände links und rechts schüchtern mich ein, ein grollendes Geräusch beunruhigt mich. Ich fühle mich klein, winzig geradezu, als ich immer weiter in den Stoissengraben hineinspaziere. Der tief eingeschnittene Graben ist Teil des Steinernen Meeres, eines Gebirgsmassivs, das vor Millionen von Jahren Meeresboden war. Hoch oben, irgendwo hinter den spitzen Felsengipfeln von Persailhorn und Breithorn, sind heute noch die Überreste von Korallenriffen zu finden – weit außerhalb meiner Reichweite.

Ich habe schon hier, im rauen Stoissengraben, das Gefühl, dass ich mich aus meiner Komfortzone bewege. Schritt für Schritt werde ich langsamer. Schließlich halte ich inne, kühle die verschwitzten Füße im eisigen Wasser ab und lasse das Rauschen des Baches auf mich wirken. Er windet sich um Steine, fließt über Gesteinsstufen, transportiert auf seinen Wellen Blätter und Zweige. Mit der Zeit überträgt sich seine Kraft auf mich. Auf einmal schaffe ich es doch bis zu dem Wasserfall im hintersten Teil des Grabens, mit neuer Leichtigkeit überquere ich die abenteuerlichen Stege und Leitern. Dort kann ich mich wieder entfalten: Ich werde nicht größer, als ich bin, aber auch nicht mehr kleiner. 

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