Wer in Wien lebt, muss ab und zu nach Berlin fahren! Denn Berlin bietet einen erfrischenden Gegenentwurf zu der kaiserlich-königlichen Atmosphäre in Wien: Bunt, laut und wild geht es in Berlin zu, die Stadt ist ein Hotspot für schräge Kunst und alles, was sonst nirgendwo einen Platz findet. Soweit zumindest meine Vorstellung nach bisher zwei Besuchen in der deutschen Hauptstadt.
Fast auf den Tag genau 30 Jahre nach dem Mauerfall habe ich gemeinsam mit dem Berlin-Neuling Andreas geprüft, ob denn mein Bild von Berlin wirklich noch mithalten kann mit der Stadt selbst. Die Antwort kann natürlich nur lauten: Nein.
Schließlich scheint sich Berlin dauernd selbst zu überholen. So viele Leute, so viele Graffitis, so viele U-Bahn-Linien, die Stadt ist einfach überwältigend! Dazu kommt die ganz besondere Geschichte der Stadt, die viele Jahre lang in zwei Teile zerrissen war und zwei Namen trug: West-Berlin und Ost-Berlin. Seit 30 Jahren ist Berlin zwar wieder einfach nur Berlin, aber der jahrzehntelange Konflikt zwischen dem Ostblock und der westlichen Exklave hat natürlich Spuren hinterlassen.
Ein Herz, zwei Teile
Und diese Spuren gehen mitunter tief unter die Haut: Bei einer Ausstellung am Spreeufer erfahren wir von Zeitzeug*innen aus Ost-Berlin, dass sie ihre Verwandten ein paar hundert Meter weiter westlich jahrzehntelang nicht sehen konnten. Andere ertranken beim Versuch, durch die Spree zu schwimmen, während die Grenzwächter des DDR-Regimes unbeteiligt zusahen. Spielende Kinder wurden einfach erschossen, wenn sie der Mauer zu nahe kamen.
Die bauliche Trennung der Stadt kerbte sich tief ein in die Seelen der Menschen, ob sie nun blieben oder die Flucht wagten. Auch die Stadt selbst trug Narben davon: Ganze Straßenzüge wurden für den Bau der Mauer abgerissen und Kirchen gesprengt. Über 70 Fluchttunnel durchlöcherten den Untergrund von Berlin.
Mauern überall
Seit dem 9. November 1989 ist der „antifaschistische Schutzwall“, wie die DDR-Propaganda die Mauer zynisch bezeichnete, zwar kein Todesstreifen mehr. Ihre Reste sind mittlerweile sogar zu einem beliebten Hintergrundmotiv für Selfies geworden, aber dennoch – die Mauer mitten in Berlin erinnert überdeutlich daran, was Menschen einander angetan haben und immer noch antun.
Denn Mauern gibt es nach wie vor. Nur haben sie sich in Richtung Süden verschoben, und statt aus Ziegeln und Mörtel bestehen sie heute aus Stacheldraht und Meereswellen. Auch dafür steht Berlin, symbolisch und tatsächlich.
Wenn Häuser schreien
Denn nirgendwo sonst im deutschsprachigen Raum ist der Widerstand gegen menschenverachtende Politik so sichtbar wie hier. Ob es um steigende Mieten geht oder um bewaffnete Konflikte in Syrien, die Berliner*innen zeigen stets klar und deutlich, was sie davon halten (manchmal auch in Gestalt von Aliens).
Die Fassaden der Häuser schreien in Berlin: Kapitalismus tötet und zerstört! Mieten runter, Wände bunter! Wohnraum ist keine Ware! Das ist unbequem und nicht immer schön, aber jedenfalls eine Abwechslung zu dem gedämpften, gemütlichen Leben in Wien.
Gegen + Satz = Berlin
Eine kleine Ironie ist dabei, dass Berlin eine Hauptstadt des Konsums ist. An jeder Ecke gibt es Lokale und Cafés, und zwischen diesen Ecken reiht sich ein Geschäft an das andere. Hier gibt es einfach alles zu kaufen: Keto-Kaffee mit Butter und Kokosöl und handgefertigte Schuhe aus veganem Leder genauso wie riesige Steaks und Wegwerfmode der großen Konzerne.
Berlin, die Stadt der Gegensätze: Hier kann man die absurdesten Dinge zusammenwürfeln und es passt. Ob Techno Yoga oder Porno Karaoke (ja, wirklich!), in Berlin wird Fusion gelebt. Irgendwie funktioniert das sogar ganz gut, und für ein Wochenende ist es auf jeden Fall lustig.
Alltag im Kiez
Für eine Freundin von Andreas, Ksenija, die als Künstlerin und Lehrerin in Berlin arbeitet, ist das allerdings weniger lustig. Im Alltag ist Berlin teuer und anstrengend. Die Miete ihrer Kreuzberger Wohnung steigt jedes Jahr um 60 Euro, aber ihr Lohn hält da natürlich nicht mit. Die Stadt ist dreckig und laut, die offensichtliche Armut vieler Menschen kaum zu ertragen, gerade vor dem Hintergrund der glänzenden Kaufhausfassaden.
Ein eigenartiges Erlebnis ist Berlin bei Nacht: Die Stadt ist nur schwach beleuchtet, die Gesichter der Menschen verschwinden im Dunkel der Nacht. Richtig unheimlich wird es, wenn im düsteren Park auf einmal fünf Figuren den Weg versperren. Da begleiten wir Ksenija lieber ein Stückchen, anstatt sie alleine durch den Park gehen zu lassen, und selbst dann beschleunigen sich noch unsere Schritte.
Die Stadt am See
Zum Glück lässt sich dem verwirrenden, manchmal auch angstmachenden Trubel in der Stadt aber auch ganz gut entfliehen: Berlin hat erstaunlich viele Seen, Teiche, Flüsse und Bäche! Am Sonntag entscheiden wir uns für einen Ausflug zum Müggelsee. Ganz im Osten von Berlin gelegen, ist der große See von viel Wald umgeben und bietet viel Platz zum Laufen, Spazieren und Schwimmen. Ja, zum Schwimmen!
Am Ende eines Pfades finden wir eine Badestelle mit Sandstrand. Mutig werfen Ksenija und ich uns in die kühlen Fluten. Oder kalten Fluten eher, bei acht Grad Wassertemperatur. Ein Schock nach all der behaglichen Wärme der vielen kleinen Cafés und Bars, aber auch eine Erinnerung daran, wofür Berlin wirklich steht: für ein waches und bewusstes, mitunter aber auch schmerzliches Dasein.