Meine Kindheit auf der „Gstättn“

von Stadtstreunerin | Eva

„Ist es vielleicht schlecht, wenn einem trotzdem noch so ein, zwei Gstättn überbleiben, wo man sich hinhauen kann und träumen?“, fragt H. C. Artmann in dem Gedicht no und waun scho. Wenn es nach dem berühmten Wiener Vorstadtdichter geht, habe ich es offenbar besonders gut!

Denn mein Wohnhaus grenzt an eine riesige Brachfläche (oder Gstättn, wie man in Wien sagt) neben den Gleisen der Westbahn, gleich beim Bahnhof Hütteldorf im Westen von Wien. Seit Jahrzehnten ist die Gstättn vor meiner Haustüre eine Heimat für Spechte, Füchse, Eichhörnchen und Meisen – und ein bisschen auch für mich.

Blick von oben (2015)

Die Geborgenheit der Gstättn

Davon, sich auf der Gstättn hinzulegen und zu träumen, wie es bei H. C. Artmann heißt, konnte in meiner Kindheit aber keine Rede sein! Die Böschung, wie wir den kleinen Abhang neben unserem Haus und die große Fläche dahinter nannten, war für uns Vorstadtkinder vielmehr ein wildes Stück vom Paradies: Hier gaben wir Bäumen einen Namen, rutschten auf Schieferplatten hinunter oder krochen durch das Dickicht. Hoch oben in der Linde versteckten wir uns in einem Astloch gegenseitig kleine Nachrichten. 

Bild einer Steinplatte

Eine Steinplatte als Rutsche (2016)

Bild vom Baum, den wir "Gromutter Weide" tauften

Ein Baum namens „Großmutter Weide“ (2016)

Manchmal fanden wir auf der Böschung und der Brachfläche dahinter kleine Schätze, manchmal aber auch ölige Lacken und riesige Kabelrollen. Es war ein bisschen gefährlich, was uns wohl besonders faszinierte. Die Eltern warnten uns: Geht ja nicht zu nahe zu den Gleisen der Westbahn! Mehr oder weniger haben wir uns wirklich daran gehalten: Zumindest kann ich mich nicht erinnern, dass wir je die Lagerhalle auf dem Gelände inspiziert hätten.

Achtung, Gefahr! (2016)

Fundstück im Boden (2019)

In meiner frühen Kindheit gab es dort noch ein Haus, in das mich mein Vater an einem Winterabend mal zu einer Ausstellung von Modelleisenbahnen mitnahm. Draußen war es kalt und dunkel, drinnen aber heimelig. Das Haus ist längst abgerissen, übrig geblieben sind schemenhafte Erinnerungen und ein Gefühl von Geborgenheit.

Bild eines Schneckenhauses

Raum und Rückzug (2016)

Platz für die kleinste Pflanze (2016)

Ein Raum für alle

Mittlerweile bin ich schon lange erwachsen, doch die Böschung gibt es immer noch. Freilich klettere ich dort nicht mehr in den Bäumen herum und folge auch nicht mehr den geheimen Pfaden durch das Gestrüpp, aber ich beobachte gerne an grauen Wintermorgen die Krähen in den kahlen Bäumen und freue mich, wenn der Specht (oder gar ein Distelfink!) vorbeischaut. Auf der kleinen Wiese laufen untertags Hunde bunten Bällen hinterher, in der Nacht huscht manchmal ein Fuchs vorüber.

Bild einer blühenden Distel

Distel wartet auf Distelfink (2016)

Krähen schauen (2019)

Ein Morgen im dichten Nebel (2019)

Im Frühling leuchten die rosa Blüten der Kirschbäume zu mir herein, auf der Wiese wuchert der Lerchensporn. Nur ein paar Wochen später verwebt sich dann alles zu einem einzigen dichten Grün, bevor sich die Blätter wieder gelb verfärben und der Schnee sich über alles legt. 

Treffpunkt von Frühling und Winter (2017)

Der Lerchensporn macht alles lila (2017)

Bild eines Blattes im Schatten, dahinter eine von der Sonne beleuchtete Steinplatte

Licht und Schatten (2016)

Der Winter ist nahe (2019)

Doch der Lauf der Zeit, der mich von einem neugierigen Mädchen zu einer ewig müden Erwachsenen gemacht hat, hat auch die Böschung nicht verschont.

Von der Böschung zur Baustelle

Wien wächst, und die große Fläche zwischen unserem Wohnhaus und der Westbahn soll genutzt werden. Das heißt, die Gstättn wird jetzt zum Stadtentwicklungsgebiet! Bis 2022 sollen auf der Böschung selbst und auf dem Areal dahinter mehrere Gebäude entstehen. Eines davon wird der „Bildungscampus Deutschordenstraße“, eine Schule für bis zu 1.125 Schüler*innen. Daneben bieten neue Wohnblöcke Platz für 450 Wohnungen.

Um Platz zu erhalten, müssen nicht nur die Bäume der Böschung gerodet werden. Nein, die Böschung selbst wird dem Erdboden gleichgemacht! Das Gelände muss um einige Höhenmeter tiefer gelegt werden, um eine große ebene Fläche mit 3,2 Hektar zu schaffen. Im Juni 2020 geht es mit der Baustelle los, die Vorarbeiten finden aber bereits seit Dezember 2019 statt. Eine ganze Reihe Bäume ist schon gerodet, der Lärm der Sägen, Bagger und Häckselmaschinen gehört mittlerweile zum Alltag (ich dokumentiere die Entwicklungen hier auf Twitter).

Bagger stehen bereit (Ende 2019)

Ein Teil der Böschung ist bereits gerodet (Ende 2019)

Kein Platz mehr

Aber wo bleibt bei diesem überdimensionierten „Entwicklungsgebiet“ der Stadt Wien noch der Platz zum Träumen, von dem H. C. Artmann spricht?  Ich fürchte, es gibt ihn schlicht nicht mehr (oder kaum noch).

Sachzwang, Effizienz und Verdichtung: Diese Schlagwörter ersetzen heute den wilden, naturbelassenen Freiraum von früher. Die Gstättn verschwindet, an ihre Stelle treten genormte Spielplätze und das „Prinzip der bewegten Landschaft“: Das bedeutet, dass der Schulcampus nach einem genauen Plan begrünt werden soll.

Auf Nimmerwiedersehen, Freiraum? (2019)

Sicherlich schaffen sich die Kinder dann ab Herbst 2022, wenn der Bildungscampus seine Tore öffnet, dort ihre eigenen Freiräume. Dass aber das Paradies meiner Kindheit auf so brutale Art verschwinden muss, stimmt mich doch traurig. Angesichts von Klimawandel, schwindender Artenvielfalt und fortschreitender Bodenversieglung ist Pessimismus auch abseits nostalgischer Erinnerungen angebracht, wenn wertvoller Grünraum geopfert wird, anstatt Teil neuer Entwicklungen zu werden.

So viel Grün! (2017)

Freilich war früher nicht alles besser. Aber das hält mich nicht davon ab, zum Abschied ein trauriges Lied für die Böschung zu singen:

Oh Böschung, wie viele Vögel
nennen dich ihr Zuhause,
wie viele Blätter im Herbstwind
und wie viele Schneeflocken?
Wie vielen Igeln gewährst du Unterschlupf,
wie viele Füchse huschen durch,
hast du sie je gezählt?

Sicher, du bist nur ein Reihe Bäume,
machtlos gegen den Sachzwang
von ganz oben.
Aber wir beide wissen:
Du bist klein,
aber im Kleinen steckt immer auch das Große.
Die Bagger wissen das nicht,
sie rücken an und wühlen tief,
nicht nur in der Erde.

Mach’s gut, Böschung!
Du veränderst dich,
aber ich bleibe
und versuche, auch ohne Gstättn
zu leben, und vor allem: standzuhalten.

Kleines Denkmal für das verlorene Paradies (2019)


Literaturquelle

Artmann Hans Carl (1973): med ana schwoazzn dintn. gedichta r aus bradnsee. Salzburg: Otto Müller Verlag

Weiterlesen

Das Stadtentwicklungsgebiet vor der Haustüre, Teil 2: „Von der Lagerhalle zur Pyramide“

Das Stadtentwicklungsgebiet vor der Haustüre, Teil 3:„Ein Baufeld wird frei“

Der Journalist Erich Kocina und der Fotograf Daniel Novotny haben mich und meine Gstättn in der Presse porträtiert: „Das langsame Verschwinden der Wiener Gstättn“ (25. Mai 2020)

Informationen

Mehr Informationen zum Bildungscampus Deutschordenstraße findet ihr hier.

Webcam

Ein Nachbar hat die Entwicklungen auf der Böschung seit dem Sommer 2016 gefilmt. Hier im Zeitraffer zu sehen!

Meinungen?

Ich bin neugierig, wie ihr diese Entwicklungen findet. Schreibt mir doch eure Meinung dazu in einem Kommentar oder gerne auch per Mail.


P.S.

Am 9. März 2020 sind die Bäume auf der Böschung endgültig gefällt worden. Das Ausmaß der Zerstörung hat mich tatsächlich fassungslos gemacht. Was hier stattgefunden hat, ist nichts weniger als ein Verbrechen an der Umwelt! 

Besonders traurig hat mich ein großer Stapel gerodeter Bäume und Sträuche gemacht, in dem noch die Meisen herumgeflattert sind. Auch der Anblick des gefällten Kirschbaums hat mir weh getan, er stand kurz vor der Blüte. Ich habe einige Zweige abgebrochen und mit nach Hause genommen, dort sind die Knospen dann doch noch aufgeblüht. 

🙁

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