Es ist schon paradox: Schrift prägt die Stadt so stark, dass es uns meistens gar nicht auffällt. Dabei gibt sie uns Orientierung im Alltag, erzeugt eine unverwechselbare Identität ganzer Straßenzüge und Stadtteile und erzählt uns etwas über Kultur, Politik und Protest. Es lohnt sich also, hinter die sprachlichen Fassaden der Stadt zu schauen!
Der Sprachwissenschafter Dr. Christoph Purschke erforscht seit 2015 an der Universität Luxemburg die Struktur und Dynamik von Aufschriften im öffentlichen Raum. Zusammen mit dem Schweizer Softwareentwickler Daniel Wanitsch von der Firma iBros.ch hat er die App Lingscape entwickelt, mit der sich diese städtische Sprachenlandschaft – die sogenannte Linguistic Landscape – spielerisch einfangen lässt. (Hier auf Stadtstreunen.at gibt es mittlerweile ein Testbericht aus Favoriten!) Im Interview gewährt Christoph Purschke einen ausführlichen Einblick in seinen spannenden Forschungsalltag und spricht darüber, was die Schriftlichkeit im öffentlichen Raum über unsere Gesellschaft erzählen kann – und was nicht.
Eva: Was kann man sich unter einer Linguistic Landscape denn eigentlich vorstellen? Welche Elemente sind Teil einer solchen Sprachenlandschaft?
Christoph Purschke: Im Prinzip gehört dazu alles, was an Schriftlichkeit im (öffentlichen) Raum zu finden ist – angefangen bei offiziellen Beschilderungen, etwa Schildern für Straßennamen, Hinweisen auf Verbote bestimmter Handlungen oder Aufschriften auf Gebäuden. Aber auch alle anderen Arten von Schriftlichkeit tragen zur sprachlichen Landschaft bei: kommerzielle Werbebanner, private Ankündigungen oder künstlerische Ausdrucksformen wie Graffiti und Sticker. Selbst die Beschriftung auf einem Kanaldeckel ist Teil der Linguistic Landscape eines Ortes, wenngleich ein selten beachteter.
Eva: Ein bekannter Erforscher der Linguistic Landscape, Jannis Androutsopoulos, meint, dass die mehrsprachigen Zeichen im öffentlichen Raum eine Bedeutung tragen, die größer ist als der eigentliche Wortlaut. Aber was können uns Straßennamen, Werbungen, Geschäftsaufschriften und Schilder tatsächlich sagen?
Christoph Purschke: Zunächst einmal steht kein Zeichen, das wir Menschen schaffen, nur für sich selbst. Wir verbinden mit diesen Zeichen sekundäre Bedeutungen, die sich aus unserem Wissen über die Welt, in der wir leben, speisen. Man denke nur an das Image, das einige Dialekte des Deutschen in der Wahrnehmung vieler Menschen haben. Hört man einen Bayern Dialekt reden, denkt man eben nicht nur „Aha, das ist ein Sprecher des Deutschen, der aus Bayern stammt“, sondern verbindet damit auch stereotype soziale Urteile wie Gemütlichkeit, Ländlichkeit oder geringe Bildung.
Eva: Das kennen wir in Österreich natürlich auch. Schon kleine Details in der Sprache einer Person, z.B. die Aussprache bestimmter Wörter, lassen uns sofort Rückschlüsse ziehen, ob wir es mit einem Hackler oder einem Hipster zu tun haben.
Christoph Purschke: Und genauso ist es mit Schriftlichkeit im öffentlichen Raum. Die Art und Weise, wie eine Gemeinschaft Beschilderung im öffentlichen Raum organisiert, verrät uns viel darüber, wie zum Beispiel Partizipation und Rederecht in einer Gesellschaft verhandelt werden, wer also aus welchen Gründen und für wen Beschriftungen in welchen Sprachen anbringt. Auch in mehrsprachigen Gesellschaften ist es ja so, dass nicht jede Information in allen relevanten Sprachen vorhanden ist. Es findet zumeist eine Auswahl und damit auch implizit eine Hierarchisierung von Sprachen im öffentlichen Raum statt, etwa was ihren praktischen Nutzen anbelangt. Gleichzeitig beinhaltet die Auswahl bestimmter Sprachen für Beschriftungen im öffentlichen Raum aber auch immer eine soziale Projektion in Bezug auf die Rezipient*innen: Der oder die Urheber*in der Beschriftung gibt damit zu erkennen, dass Sprecher*innen bestimmter Sprachen mit bestimmten Handlungen und sozialen Rollen in Verbindung gebracht werden.
Eva: Was kann uns denn die Linguistic Landscape über gesellschaftliche Konflikte und soziale Identitäten verraten? Oder kann ein Schild auch einfach mal nur ein Schild sein?
Christoph Purschke: Ein verräterisches Beispiel in diesem Zusammenhang sind etwa mehrsprachige Schilder in ansonsten einsprachigen Umgebungen. So finden sich in manchen deutschen Kaufhäusern Schilder, die etwaigen Ladendieb*innen mit strafrechtlichen Konsequenzen drohen und die, im Gegensatz zu allen umgebenden Schildern, nicht nur auf Deutsch, sondern auch auf Türkisch, Arabisch und Rumänisch beschriftet sind. Dass unter allen möglichen Schildern in einem Kaufhaus ausgerechnet dieses mehrsprachig beschriftet ist, zeigt, wie weit verbreitet die pauschale und häufig sogar vermutlich unbewusste Stigmatisierung bestimmter anderssprachiger Bevölkerungsgruppen ist.
Eva: Das habe ich in Wien auch schon öfters beobachtet: Wenn es um Verbote und Anweisungen geht, zeigt die ansonsten offiziell weitgehend deutschsprachig beschriftete Stadt auf einmal ihre Multikulturalität.
Christoph Purschke: Die Linguistic Landscape ist eben ein guter Indikator für die soziale Dynamik und Offenheit einer Gesellschaft. Ein Schild oder eine Beschriftung ist also tatsächlich selten einfach nur ein Schild, zumindest dann nicht (mehr), wenn es von jemandem wahrgenommen wird. Aber natürlich entsteht ein Schild oder ein Graffiti gar nicht erst, ohne dass jemand aus bestimmten Motiven handelt, es herstellt und anbringt. Insofern sind auch im Entstehungsprozess von Beschriftungen jeglicher Art immer auch schon Bedeutungen enthalten, die über die eigentliche Botschaft des Schildes hinausweisen.
Für uns im Alltag hingegen sind die meisten Schilder einfach nur Schilder in dem Sinne, dass wir sie häufig gar nicht bewusst wahrnehmen: Sei es, dass sie für das, was wir gerade vorhaben, nicht relevant sind und deshalb von uns nicht beachtet werden, sei es, dass die darauf enthaltene Information für uns problemlos zugänglich ist, weil sie in einer Sprache verfasst ist, über die wir verfügen können. Das ändert sich erst, wenn diese Alltagsroutinen gestört werden – zum Beispiel, wenn wir in einem Land unterwegs sind, in dem wir uns nicht auskennen und dessen Sprache(n) wir eventuell nicht beherrschen. Dann ist der Zugang zu Schildern plötzlich relevant, weil wir sie nicht lesen können, und plötzlich problematisch, weil wir ohne sie den Weg zum Bahnhof nicht finden, oder manchmal sogar überlebenswichtig, weil wir dringend medizinische Hilfe brauchen.
Eva: Ein spannender Aspekt der Linguistic Landscape ist, dass buchstäblich alle sie verändern können: Graffiti, Plakate, Pickerl und Schriftzüge zeugen davon. Ist womöglich das, was von vielen als Verschandelung der Stadt wahrgenommen wird, besonders interessant für die Forschung?
Christoph Purschke: Besonders auf jeden Fall, denn im Unterschied zu offiziellen oder auch kommerziellen Beschriftungen im öffentlichen Raum sind Aufkleber und Graffiti in der Regel unautorisiert und werden deshalb häufig schnell wieder aus dem öffentlichen Raum entfernt. Wir nennen solche Beschriftungen deshalb auch transgressive Zeichen.
Interessant sind diese Zeichen auch, weil Menschen diese Ausdrucksformen nutzen, um offizielle Beschriftungen zu kommentieren oder zu modifizieren und sich selbst damit zu positionieren, etwa bei Stickern, die auf Straßenschildern platziert werden. Zu diesen Modifikationen gehören aber zum Beispiel auch das Ausstreichen und die Zerstörung von Beschriftungen, in denen wir einen öffentlich ausgetragenen Disput um die Deutungshoheit in einer Gesellschaft erkennen können, der häufig zwischen offiziellen und privaten sozialen Akteur*innen stattfindet.
Ob diese Arten von Zeichen nun aber besonders interessant sind, hängt sicher von den individuellen Forscher*inneninteressen ab.
Eva: Der Schwerpunkt der Linguistic Landscape-Forschung liegt stark auf mehrsprachigen urbanen Räumen. Welche Aussagekraft haben mehrsprachige Schilder? Was kann uns ihre visuelle Gestaltung erzählen?
Christoph Purschke: Schilder, die in mehreren Sprachen beschriftet sind, haben ihre eigene, semiotisch durchaus komplexe Ordnung. Zum Beispiel verrät die Anordnung, Typographie und Größe der Beschriftungen auf mehrsprachigen Schildern viel über die explizite oder implizite Hierarchisierung von Sprachen. In Gesellschaften, die von links nach rechts schreiben, gelten dabei ein paar Grundregeln: In der Regel genießen die Sprachen, die auf Schildern größer, weiter oben bzw. links und/oder mit auffälligerer Typographie angebracht sind, höheres gesellschaftliches Prestige bzw. praktischen Nutzen. Im Gegensatz dazu erfüllen weniger dominante Sprachen häufig eher einen identifikatorischen Zweck. Ein schönes Beispiel hierfür sind die zweisprachigen Ortsschilder in Nordfriesland, die neben dem offiziellen deutschen Ortsnamen auch eine friesische Übersetzung zeigen, obwohl in dieser Gegend kaum noch jemand Friesisch spricht.
Eva: Ja, mit der Symbolkraft zweisprachiger Ortstafeln kennen wir uns in Österreich auch sehr gut aus.
Christoph Purschke: Ein weiterer Aspekt betrifft die Information auf mehrsprachigen Schildern. Es gibt hier sehr unterschiedliche Typen, Schilder etwa, die in allen Sprachen dieselbe Information vermitteln, ebenso wie solche, in denen sich die Texte in den verschiedenen Sprachen nur teilweise oder auch gar nicht entsprechen, wie bei Straßennamen. Daneben gibt es aber auch sogenannte hybride Texte, also Schilder, auf denen die verschiedenen Sprachen nicht klar voneinander abgrenzbar sind. Solche Schilder sind vor allem für private und kommerzielle Kommunikation typisch, etwa bei Geschäften, die Wortspiele im Namen verwenden.
Eva: Oft wird vergessen, dass wir es genau genommen nicht mit Mehrsprachigkeit zu tun haben, sondern mit mehrsprachiger Verschriftlichung. Es gibt aber auch viele Sprachen, die nur selten schriftlich verwendet, aber trotzdem von vielen gesprochen werden. Sagt die Linguistic Landscape also doch nur bedingt etwas über die Sprachen einer Stadt aus?
Christoph Purschke: Zunächst einmal: Natürlich sind Schilder selbst nicht mehrsprachig, da ja Schilder selbst nicht handeln können, sondern lediglich die Menschen, die diese Schilder in Auftrag geben, herstellen und platzieren. Und ja, es gibt große Bereiche der sprachlichen Praxis, die in der Linguistic Landscape so gut wie gar nicht vorkommen. Denk nur zum Beispiel an die große Vielfalt an Regionalsprachen in Deutschland. Egal ob Hessisch, Plattdeutsch oder Schwäbisch, solche Sprechweisen finden wir auf Beschilderungen eher selten.
Eva: Ja, auch das Wienerische wird man in Wien nur selten zu Gesicht bekommen – aber wenn, wird es aufgrund des hohen symbolischen Werts bewusst eingesetzt, um eine Botschaft auf sympathische Weise zu vermitteln oder eine soziale Zugehörigkeit auszudrücken.
Christoph Purschke: Ein schönes Beispiel dafür, wie eine überwiegend gesprochene Sprache sich nach und nach einen festen Platz in der sprachlichen Landschaft erobert, ist das Luxemburgische. Zwar gibt es schon seit Längerem eine offizielle Orthographie, dennoch war Luxemburgisch lange Zeit vor allem eine gesprochene Varietät. Doch genau so, wie sich derzeit eine private Schriftlichkeit für das Luxemburgische entwickelt, die wesentlich von den digitalen und sozialen Medien getragen wird, finden wir in den letzten Jahren eine deutliche Zunahme luxemburgischer Beschriftungen, auch auf offiziellen Schildern. Daran kann man ablesen, wie sich der Status und die Wahrnehmung des Luxemburgischen in der Praxis verändern.
Eva: Ein weiterer Grund, die Linguistic Landscape zu erforschen, ist ganz einfach ihre Schönheit, wie ich in einem Buch gelesen habe: Sie ist lebendig und dynamisch, entwickelt sich ständig und spiegelt Machtverhältnisse und soziale Positionierungen wider. Was sagst du persönlich dazu?
Christoph Purschke: Alles, was du anführst, trifft absolut auf die Linguistic Landscape zu. Dennoch finde ich nicht, dass sie diese Eigenschaften vor anderen Domänen der kulturellen Praxis auszeichnen. Kultur ist immer dynamisch und trägt soziale Bedeutungen. Kulturelle Praxis, die sich nicht mehr entwickelt, ist museal und eben keine Praxis mehr. Es ist unmöglich zu sprechen, ohne damit zugleich eine soziale Positionierung vorzunehmen, egal ob beabsichtigt oder nicht. Und auch jedes Gespräch kodiert und verhandelt Machtverhältnisse auf symbolische Weise. Es ist also gewissermaßen eine Misswahrnehmung, davon auszugehen, dass die Linguistic Landscape in besonderer Weise dynamisch oder aufschlussreich sei. Dennoch stimmt sicherlich, dass es einige wunderschöne, aussagekräftige Beschriftungen im öffentlichen Raum gibt.
Eva: Kommen wir auf deine App Lingscape zu sprechen, mit der die Linguistic Landscape auf innovative Art untersucht werden soll. Wer soll daran teilnehmen? Wie umfangreich muss die Linguistic Landscape abgebildet werden, um sie erforschen zu können?
Christoph Purschke: Die App und das ganze Projekt drum herum sind als Citizen Science konzipiert: Das heißt, dass wir alle Menschen weltweit einladen, die App herunterzuladen und Fotos auf der Karte zu platzieren. Es gibt also keine definierte Zielgruppe wie in anderen Projekten. Jede*r ist eingeladen teilzunehmen und auf diese Weise Forschung aktiv mitzugestalten. Deswegen bemühen wir uns auch sehr darum, Einblicke in den Prozess und die Ergebnisse der Arbeit mit Lingscape an unsere Nutzer*innen weiterzugeben. Neben einer Website, einer Twitter– und Facebook-Präsenz planen wir auch gezielte Aktionen wie etwa gemeinsame Forschungsspaziergänge an bestimmten Orten.
Eva: Oh, Lingscape-Streunen also?
Christoph Purschke: Sozusagen, ja. Daneben wird es bald ein größeres Update geben, das es Nutzer*innen ermöglicht, eigene Projekte in Lingscape anzulegen und zu verwalten. Das ist zum einen für Student*innen und Forscher*innen interessant, die etwa Abschlussarbeiten oder Fallstudien zu bestimmten Aspekten der Linguistic Landscape durchführen wollen, aber auch für Lehrer*innen, die mit ihrer Klasse ein Projekt planen.
Wie umfangreich eine Studie sein muss, um ein zutreffendes Bild der Linguistic Landscape eines Ortes zu geben, lässt sich kaum beantworten. Grundsätzlich kann auch schon ein einzelnes Bild eine spannende Aussage treffen. Beispielsweise gibt es in Vancouver einen schönen Park in der Nähe der Innenstadt, den Stanley Park, in dem ich neulich unterwegs war. Man findet dort vorrangig englische und einige englisch-französische Schilder. Ein einziges Schild aber ist in neun Sprachen beschriftet, darunter Deutsch, Italienisch und Thai – Sprachen, die ansonsten kaum in der lokalen sprachlichen Landschaft zu finden sind; es handelt sich um ein Warnschild vor Tollwut. Warum also ist ausgerechnet diese Warnung in so viele Sprachen übersetzt, andere Warnungen, Verbote oder Hinweise aber nicht?
Eva: Hm, rätselhaft. Ich habe auch ein interessantes Beispiel: ein einzelnes Graffiti in Berlin, das die Band Grossstadtgeflüster zu einem bekannten Lied inspiriert hat.
Christoph Purschke: Haha, ja. Ideal wäre es natürlich, die Linguistic Landscape eines Ortes vollständig zu erheben, also sämtliche Beschriftungen bis hin zu den allerkleinsten Elementen wie Herstellernamen auf Schrauben, mit denen Straßenschilder befestigt sind. Auf diese Weise sind in einem Wiener Projekt unter der Leitung von Barbara Soukup in mehreren Straßenzügen weit über 15.000 Bilder zusammengekommen. Solch eine Datenmenge lässt sich manuell kaum noch analysieren. Deshalb setzen wir bei Lingscape auch Techniken aus der Computerwissenschaft und Bilderkennung ein, die es uns ermöglichen sollen, große Datenmengen zu analysieren.
Dennoch wird auch in Lingscape kein repräsentatives Bild der Linguistic Landscape entstehen, weil unsere Nutzer*innen entscheiden, welche Beschriftungen auf der Karte landen. In gewisser Weise ist das sogar Teil des Forschungsdesigns. Es interessiert uns nämlich nicht nur, welche Sprachen die Linguistic Landscape eines Ortes prägen, sondern auch, welche Sprachen und Beschriftungen in der Öffentlichkeit überhaupt auffällig für die Menschen sind.
Eva: Kannst du einen Einblick in deine eigene Forschung geben?
Christoph Purschke: Derzeit bin ich noch gar nicht so viel mit Forschen beschäftigt, sondern eher damit, die App mit neuen Funktionen auszubauen und computergestützte Analyse- und Darstellungsmöglichkeiten zu erproben. Ein weiterer wichtiger Aspekt, in den derzeit viel Zeit fließt, ist Werbung und Öffentlichkeitsarbeit, damit die App bekannt wird und möglichst viele Menschen mir fleißig Fotos schicken, mit denen ich dann forschen kann. Aber natürlich bin auch selbst viel in der Linguistic Landscape unterwegs, um erste kleine Fallstudien zu machen – in Luxemburg natürlich, aber auch in Wien oder Vancouver. Es geht also derzeit vor allem darum, gemeinsam mit den Nutzer*innen Daten zu sammeln.
Allerdings bereite ich schon einige Studien und Auswertungen mit Lingscape vor. So möchte ich gern untersuchen, welche Sprachen Menschen in der Linguistic Landscape wahrnehmen und auf ihren Bildern markieren und inwiefern dies im Gegensatz zu dem steht, was auf den Bildern tatsächlich zu sehen ist. Prominente Beispiele in diesem Zusammenhang sind etwa Russisch und Chinesisch. Sobald im öffentlichen Raum kyrillische oder chinesische Schriftzeichen auftauchen, wird dies zumeist als Russisch oder Chinesisch getaggt; allerdings nutzen natürlich auch andere Sprachen diese Zeichen, darunter Ukrainisch oder Japanisch. Da diese Alphabete und Sprachen aber für viele Menschen nicht „lesbar“ sind, entstehen dann spannende Diskrepanzen zwischen der Wahrnehmung der Menschen und der tatsächlichen Variabilität der Linguistic Landscape.
Eine zweite Studie beschäftigt sich mit den Erfahrungen der Schüler*innen, die Lingscape im Unterricht benutzen. Einerseits können so ganze Gemeinden von Schulklassen erfasst werden, was schöne Fallstudien über die Linguistic Landscape in Luxemburg ermöglicht. Aber auch die Frage, ob und wie sich die Wahrnehmung von Mehrsprachigkeit in der Öffentlichkeit bei Kindern entfaltet, interessiert mich sehr. Ich möchte hier unter anderem analysieren, welche Schilder von bestimmten Nutzern hochgeladen werden und dann Nutzertypen vergleichen. Das geschieht natürlich streng anonym; wir erheben in Lingscape keinerlei persönliche Daten.
Eva: Auch an Wiener Schulen soll Lingscape eingesetzt werden, um die Sprachenlandschaft Wiens spielerisch zu erkunden. Weißt du da Näheres darüber?
Christoph Purschke: Ja, besser noch: Ich durfte bei der Planung dieses spannenden Projektes der Universität Wien sogar ein wenig mitmachen. Es heißt „VisibLL: (Un)übersehbar mehrsprachig“ und es geht dabei darum, gemeinsam mit Schüler*innen aus sozial unterschiedlich geprägten Bezirken die Wiener Sprachenlandschaft zu erforschen, vor allem die Rolle englischer und französischer Beschriftungen. Wir haben die Benutzung von Lingscape auch deswegen möglichst einfach gestaltet, damit Menschen jeden Alters die App benutzen und so etwas über die kulturelle Vielfalt lernen können, die uns alle umgibt. Ein explizites Ziel für das Projekt besteht für mich in der Zusammenarbeit mit Lehrer*innen und Schüler*innen.
Glücklicherweise konnten wir darüber hinaus bereits eine offizielle Kooperation mit dem luxemburgischen Erziehungsministerium ins Leben rufen, sodass Lingscape auf absehbare Zeit als offizielles Lernwerkzeug in luxemburgischen Grundschulen eingesetzt werden wird. Eine Feldstudie hierzu in 10 luxemburgischen Grundschulen ist derzeit in Vorbereitung.
Ich freue mich über solche Kooperationen besonders, weil Lingscape für mich ein tolles Werkzeug für die Arbeit mit Kindern ist, um sie für die komplexen Bedingungen mehrsprachiger sozialer Praxen zu sensibilisieren.
Eva: Das fördert sicherlich das gegenseitige Verständnis und ermöglicht einen positiven Zugang zur gesellschaftlichen Vielfalt und Mehrsprachigkeit. Und da wir gerade beim spielerischen Zugang zur Linguistic Landscape sind: Was sagst du denn zur Beschreibung von Lingscape als linguistisches Pokémon Go?
Christoph Purschke: Das zeigt, dass Lingscape etwas ist, das für Menschen im Alltag interessant sein kann und das die Möglichkeit bietet, den Alltagsraum, in dem wir uns so selbstverständlich bewegen, mit ganz neuen Augen zu sehen. Augmented reality also im besten Sinne. Menschen, die derzeit mit mir in der Öffentlichkeit unterwegs sind, müssen sehr viel Geduld mitbringen, weil ich natürlich überall nur noch Sprachen und Zeichen sehe, dauernd stehen bleibe und ein Foto für die App mache. Mir ist es tatsächlich auch schon häufiger passiert, dass ich unterwegs beim Hochladen von Fotos von Pokémon Go-Spieler*innen angesprochen wurde, weil ich beim Herumlaufen so konzentriert auf den Bildschirm geschaut habe. So kommt man auf nette Weise mit Menschen ins Gespräch, indem man seine digitalen Hobbies vergleicht.
Bleibt nur zu hoffen, dass die App auch ein klein wenig vom Erfolg der Pokémon-Jagd abbekommt! Denn Citizen Science lebt natürlich vom Engagement der Bürger*innen. Und auch wenn es noch keine Punkte mit der Jagd nach Schildern zu verdienen gibt, ähnlich viel Spaß kann sie auf jeden Fall machen. Also los jetzt, Schuhe an, stadtstreunen, lingscapen!
Das Interview fand Anfang November 2016 statt und wurde in schriftlicher Form geführt. Herzlichen Dank an meinen Kollegen Christoph für die spannenden Einblicke in seinen Forschungsalltag!
Das Foto von Christoph Purschke stammt von hier.
Lingscape
Lingscape ist in den App Stores von Google und Apple gratis erhältlich. Eine Registrierung ist nicht notwendig. Einfach runterladen und losstarten!
Literaturquellen
Androutsopoulos Jannis (2008): Linguistic Landscapes: Visuelle Mehrsprachigkeitsforschung als Impuls an die Sprachenpolitik. Hier online abrufbar.
Shohamy Elana, Gorter Durk (hrsg. 2009): Linguistic Landscape. Expanding the Scenary. New York / London: Routledge
Shohamy Elana, Ben-Rafael Elizier, Barni Monica (hrsg. 2010): Linguistic Landscape in the City. Bristol [u.a.]: Multilingual Matters
Die Zitate unterhalb zweier Fotos (Pseudosphinx und Berliner Graffiti) stammen von Lyrics der Bands Wir sind Helden und Grossstadtgeflüster.
1 Kommentare
Die Sprachlandschaft einer Stadt. Neu entdeckt: die App Lingscape, mit der man Sprache im öffentlichen Raum fotografieren und auf einer Karte dokumentieren kann. Unter den Surftipps von November bis Januar: https://geisteswirtschaft.de/surftipps-november-bis-januar/