„Das Land, das mich in Europa am wenigsten interessiert, ist die Ukraine.“
Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich als 16- oder 17-Jährige so gedacht habe. Damals konnte ich weder mit der Ukraine noch mit dem Rest von Osteuropa etwas anfangen; selbst Bratislava war mir schon suspekt. „Nie werde ich eine slawische Sprache lernen, das sieht viel zu kompliziert aus“, habe ich mir bei meinem ersten Besuch in der slowakischen Hauptstadt geschworen. Sechs lange Jahre Latein-Unterricht haben gereicht!
Es sollte aber anders kommen: 2007 nahm mich mein Vater auf eine Reise in die westliche Ukraine mit. Ich war trotz aller Vorbehalte auf Anhieb begeistert. Eine neue Welt eröffnete sich mir, und das nur wenige Zugstunden von Wien entfernt! Zwei weitere Reisen in die Ukraine sollten folgen, mehrere Sprachkurse in verschiedenen slawischen Sprachen, eine intensive Auseinandersetzung mit ost- und südosteuropäischer Literatur und Kultur, die nie wieder aufgehört hat.
Diese erste Reise in die Ukraine hat somit auf gewisse Weise mein Leben verändert, indem sie meinen Blick erweitert und den Horizont gedehnt hat. Kurz gesagt: Ich bin der Ukraine emotional verbunden.
Seitdem hat sich viel verändert: für die Ukraine noch viel mehr als für mich. Trotzdem – oder vielleicht auch deswegen – zieht es mich wieder dorthin.
В Україну – über die Slowakei
Ist es möglich, in ein Land im Kriegszustand zu reisen? Ja. Das beweist der stets ausgebuchte Schlafzug, der täglich zwischen Wien und Київ verkehrt. Ist es ratsam? Bei einer Reisewarnung höchster Stufe vermutlich nicht. Helmut und ich überlegen lange hin und her, bis wir uns für eine Stippvisite entscheiden. Unser Ziel, die Kleinstadt Mukačevo in der Region Transkarpatien, liegt so nahe an der Grenze zu Ungarn und zur Slowakei, dass ein Angriff unwahrscheinlich ist. Ein Wochenendtrip der anderen Art bleibt es dennoch.
Zwischen Wien und Mukačevo liegen nicht einmal 470 Kilometer; die Ukraine ist damit näher an Wien als Bregenz. Das fasziniert mich schon seit meinem ersten Besuch: Warum fühlen wir uns mit Vorarlberg verbunden, mit der Ukraine nicht? Es liegt sicher – auch – an den schlechten Zugverbindungen in den Osten, die jede Reise zum Abenteuer machen.
Als Erstes nehmen wir den Nachtzug von Prag in die ostslowakische Stadt Košice – wir steigen in Břeclav zu. Am nächsten Morgen kommen wir pünktlich an und haben ein bisschen Zeit, um durch die Stadt zu spazieren. Ich kannte von Košice bisher nur die teils haarsträubenden Berichte aus dem Stadtteil Luník IX, dessen Plattenbauten oft als Ghetto oder gar Slum bezeichnet werden; ein Sinnbild für die misslungene Integration der Roma. Das Stadtzentrum macht dagegen einen recht gepflegten, wenn auch verschlafenen Eindruck. Erst in einer versteckten Seitengasse finden wir ein offenes Kaffeehaus, in dem wir frühstücken können.
Mit der Brotbüchse zur Grenzkontrolle
Und dann wird es langsam real: Wir steigen am Bahnhof in einen Zug der slowakischen Bahn ZSSK, der aus einem dunkelrot-weiß lackierten Dieseltriebwagen besteht. Ziel: Mukačevo. Die eckigen Fenster an der Front haben dieser Baureihe den Spitznamen „Brotbüchse“ eingetragen. Innen fühle ich mich eher wie in einer Sardinenbüchse: Der Zug ist gesteckt voll. Wir schaukeln durch die unspektakuläre, flache Landschaft der Ostslowakei, bis wir mitten auf der offenen Strecke anhalten: Grenzkontrolle!
Bis alle Pässe eingesammelt, abgestempelt und wieder ausgeteilt werden, vergeht etwa eine Stunde. Dann rollen wir ein paar hundert Meter weiter in den ukrainischen Grenzbahnhof Čop, wo sich das Prozedere wiederholt. Während wir gegen die Müdigkeit ankämpfen, vertreiben sich zwei Männer neben uns die Zeit mit einer Jause und einer beachtlichen Menge an Wodka. Selbst nach der ersten Flasche Schnaps geht es dabei noch gesittet zu: Getrunken wird aus einem Schnapsglas, nicht aus der Flasche.
Der slowakische Lokführer hat das Radio aufgedreht. „You take my self control“, dudelt es aus dem Gerät. Ein passender Song für diese langwierige Grenzerfahrung!
Ein zweites Mal in Mukačevo
Bis Mukačevo gibt es ein sogenanntes Vierschienengleis, d.h. unser kleiner Triebwagen muss nicht umgespurt werden. Hier beginnt das vielgerühmte Breitspurland, das bis ans andere Ende von Eurasien reicht – mittlerweile leider nur noch theoretisch, da die Ukraine aus nachvollziehbaren Gründen die Schienen an der russischen Grenze gekappt hat. Die kleine Plattform in Mukačevo, wo das Normalspurgleis endet, ist etwa einen halben Kilometer vom eigentlichen Bahnhof entfernt.
Mit unserem leichten Gepäck spazieren wir einfach zu Fuß in die Stadt hinein. Ich war schon einmal hier, bei meiner zweiten Reise in die Ukraine. 15 Jahre später entdecke ich nicht viel, das mir bekannt vorkommt: In Erinnerung ist mir vor allem die geschwungene Pforte des Rathauses geblieben. Die gepflasterten Straßen, die bunten Häuser, die kyrillischen Buchstaben – alles neu und doch vertraut.
Ein Land im Krieg, ein Krieg im Land
Die kleinstädtische Idylle trügt uns nicht lange: Zwar geht es in Mukačevo sehr beschaulich zu, aber die Zeichen des Krieges sind unübersehbar. Die Polizeistation ist mit Sandsäcken verbarrikadiert, im Supermarkt wird Geld für Prothesen gesammelt und am Hauptplatz erinnern Kerzen, Blumen und Fotos an die Gefallenen. Eindrücklich ist auch die fast stockfinstere Nacht mitten in der Stadt, die meisten Laternen werden abgedreht.
Trotzdem geht das Leben weiter: Unter dem Fenster unseres Hotelzimmers findet eine kleine Party statt. Das Gegröle der betrunkenen Jugend wird bald von einem Gewitter abgelöst, das die Stadt regelrecht überrollt. Blitze beleuchten das Rathaus, färben den Himmel dunkelviolett und erinnern mich erneut an den Krieg.
Riesenrad, Burg & Souvenirs
Trotz all dieser dunklen Vorzeichen genießen wir die 24 Stunden, die wir in Mukačevo verbringen. Gestärkt von den ukrainischen Spezialitäten im Restaurant Bograč unternehmen wir einen ausgedehnten Spaziergang am Ufer der Latorica und blicken vom Riesenrad aus auf die grünen Hügel der Karpaten. Abends trinken wir Cocktails und freunden uns mit einer Straßenkatze an, bevor wir am nächsten Tag mit dem Bus zur Burg Palanok fahren.
Am Weg hinauf zum Eingang der Burg spricht uns ein alter Mann auf Ukrainisch und Ungarisch an. Er bietet uns einen Schluck seines leicht vergorenen Traubensafts zum Kosten an und wir können nicht anders, als ihm eine Flasche abzukaufen. In Mukačevo (ungarischer Name: Munkács) und Umgebung leben viele Ungar:innen, auch die Burg selbst ist ungarisch geprägt. Hier hat Ferenc II. Rákóczi residiert, der den größten Aufstand ungarischer Adeliger gegen die Habsburger angeführt hat; später hat der Nationaldichter Ungarns, Sándor Petőfi, der eindrucksvollen Burg einen Besuch abgestattet. In einem der Innenräume entdecken wir ein Bild der Wiener Hofburg: Mukačevo ist Wien näher als umgekehrt.
Spektakulär ist aber nicht nur die Burg selbst, sondern auch das Wetter. Dunkle Wolken und Sonnenschein wechseln sich ab, über der Ebene bildet sich ein Regenbogen. Nur eine hastig hochgezogene Wand und ein Stacheldraht trüben die Aussicht: Sie schirmen die am Fuße der Burg liegende Kaserne vor allzu neugierigen Blicken ab. Am Rückweg haben die Souvenirstände bei der Bushaltestelle offen und wir können uns Magnete, Socken oder Fahnen kaufen.
Die lange Heimfahrt über Ungarn
Der Bus rumpelt uns zurück ins Stadtzentrum, die Fahrkarte kostet 30 Cent und kann nur digital bezahlt werden. Wir holen unser Gepäck aus dem Hotel und machen uns auf den Weg zum Bahnhof. Am Normalspurgleis wartet schon ein ungarischer Zug auf uns, der uns via Čop und Záhony wieder in sichere EU-Gefilde bringt – die in Ungarn schon seit Jahren so sicher nicht sind.
Nachdem wir die Grenzprozedur endlich hinter uns gebracht haben, steht der Zug erneut. Nach einiger Zeit heißt es: Zug kaputt! Wir wechseln in einen Regionalzug, der in jedem einzelnen Halt stehenbleibt. Der trübe Himmel macht aus der ungarischen Tiefebene eine öde Landschaft, die Zeit bis Budapest will nicht vergehen. Schleppend geht es weiter: Der Zug nach Wien hat über eine Stunde Verspätung, sodass wir erst lange nach Mitternacht daheim sind. Mit einer Frage im Gepäck: Wann fahren wir wieder in die Ukraine?
Tipps
Wir haben im Hotel Star gegenüber dem Rathaus übernachtet: https://hotelstar.ua/en/golovna-english/ Das angeschlossene Restaurant Bograč ist ausgezeichnet!
Mukačevo lässt sich per Zug über die Slowakei (Košice – Čierna nad Tisou – Čop) und über Ungarn (Záhony – Čop) erreichen. Die Einreise war unproblematisch, wir wurden nicht nach unseren Beweggründen gefragt.
Als Reiselektüre empfiehlt sich der skurrile Roman Karpatenkarneval des ukrainischen Schriftstellers Jurij Andruchowytsch.
Liebe Leserin, lieber Leser: Warst du schon einmal in der Ukraine? Schreibe gerne deine Erfahrungen in die Kommentare!