Mit leerem Blick sitzen sie auf einer Parkbank oder stehen grantelnd vor der U-Bahn-Station. Überall und doch nirgendwo, kriechen sie namenlos durch den Schmutz der Stadt und fallen nur dann wirklich auf, wenn sie stören. Aber man erkennt sie meistens sofort: die Drogenabhängigen und Obdachlosen von Wien.
Aus dieser gesichtslosen Menge hat sich eine Gestalt herausgelöst, ein junger Mann mit kaputten Zähnen und wachen Augen. Sein Name: Florian. Seine Geschichte: Drogenmissbrauch, Obdachlosigkeit, Verwahrlosung, Überdosis, Gefängnis. Seine Zukunft: Egal – Hauptsache weg von dem Scheiß der Vergangenheit! Und da ist er gerade gut dabei. Denn Florian organisiert jetzt über den Verein Supertramps Stadtspaziergänge und gewährt dabei tiefe Einblicke in sein früheres Leben – oder besser gesagt, in sein Überleben.
Vom Überleben
Ein Leben zwischen Spritzen und Substitutionsmitteln, zwischen Parkbank, Kirchentreppe und Notschlafstelle, stets auf der Suche nach Geld für den nächsten Kick. Dazwischen eiskalte Nächte auf der Straße, eine schwangere Freundin und kein Job: Wie hält man das eigentlich aus? „Der Mensch ist ein Überlebensviech“, gibt sich Florian pragmatisch. Wenn man sich vor Augen führt, dass er nach all den schlimmen Jahren immer noch lebt und sogar einigermaßen gesund ist, muss das irgendwie stimmen. Ein Wunder, dass er sich nie etwas eingefangen hat! Heute hält er ein eindringliches Plädoyer für einen aufgeklärten Umgang mit Drogenabhängigen, sichere Konsumräume und – damit einhergehend – eine Eindämmung der Beschaffungskriminalität, die ihn ein paar Jahre lang ins Gefängnis gebracht hat. Dort gab es dann einen kalten Entzug für Florian. Aber kaum war er aus dem „Häf’n“ wieder draußen, ging es auf der dunklen Spirale weiter abwärts. Bis zu dem Punkt, wo er sich sagte: „Entweder ich verrecke an dem Zeug, oder ich mach was“. Und da wären wir wieder beim Überlebensviech!
Der grindige Gürtel
Florians Tour führt uns an diesem eiskalten Nachmittag den westlichen Teil des Gürtels entlang. Ein Straßenzug wie ein Synonym: Hier befinden sich das Tageszentrum und die Ambulanz der Suchthilfe und das Haus der Aids Hilfe in unmittelbarer Nachbarschaft. Die vorbeibrausenden Autos sorgen unablässig für Lärm und Gestank. Lokale, Geschäfte, Puffs: Alles ist irgendwie abgewrackt und grindig.
Dann biegen wir in einen Park am Gumpendorfer Gürtel. Endlich ein bisschen Ruhe! Aber Florian deutet vorwurfsvoll auf das hoch aufragende Gebäude daneben: „Seht ihr das? Das ist das AMS für Jugendliche. Hier kommen arbeitslose Jugendliche her. Na super. Erkennt ihr das Problem?“ Wir schauen uns um und sehen Parkbänke, einen kleinen Spielplatz und einen Hinweis auf großzügige finanzielle Förderungen zur Gestaltung des Parks. „Na, da hängen tagsüber überall die Junkies rum, besonders da hinten in der Laube!“ Arbeitslose Jugendliche und Drogen – keine gute Kombination, findet Florian. Wir stimmen ihm natürlich zu.
Ein Alltag ohne Wohnung
Wenn man kein Zuhause hat, wird man erfinderisch. Mal muss die Notschlafstelle herhalten, dann kriegt man mal ein Platzerl in der Ambulanz, dann findet man irgendwo ein aufgelassenes Wettbüro. Und wer überall Pech hat, dem bleibt der Westbahnhof: Der wohlig warme Bahnhof direkt neben dem Gürtel hat jeden Tag von vier Uhr früh bis ein Uhr nachts geöffnet.
Die drei Stunden dazwischen muss man sich halt irgendwie vertreiben – zum Beispiel, indem man seinen Schlafrhythmus umstellt. „In der Nacht war ich wach und untertags hab ich in der U3 geschlafen“, erzählt uns Florian. Fahrscheinkontrollen? Ja, die gab’s natürlich – einmal sogar drei Mal hintereinander. Den Kontrolleuren ist nicht aufgefallen, dass Florian jedes Mal einen anderen Namen angegeben hat. Und bezahlen hätte er die Strafe sowieso nicht können. Denn: „Oida, ich bin obdachlos, was wollts ihr von mir?“
Im sozialen Netz der Stadt
Winterquartiere, Notschlafstellen, Ambulanzen, ärztliche Versorgung, Essensausgaben – Florian macht deutlich, dass man die Stadt als Obdachloser von einer ganz bestimmten Seite kennenlernt. Und ich bin irgendwie, in all dem Elend, stolz auf meine Stadt. Denn Florians Geschichte zeigt auch, dass in Wien niemand erfrieren oder verhungern muss – und das ist keine Selbstverständlichkeit in Europa!
Die Sprache der Straße
Auf der Straße geht es etwas rauer, aber durchaus auch humorvoll zu. Das spiegelt sich in den speziellen Ausdrücken wider, die uns Florian zum Abschluss der Tour noch beibringt. Von „staatlich finanzierter Freizeit“ für das Absitzen einer Gefängnisstrafe über „Besteck“ für das Spritzenset bis zu „Lü sammeln“ für das Einsammeln von Zigarettenstummeln. Oder, wie wir in Wien sagen: von Tschickstummeln.
Apropos Rauchen: Nachdem Florians Geld, sofern es vorhanden war, meistens in Drogen geflossen ist, hat er sein Verlangen nach Nikotin durch das Lü-Sammeln befriedigt. „Willkommen in der Trafik“, sagt Florian trocken und zeigt auf einen Aschenbecher.
Versöhnung mit dem Leben
Hier soll natürlich nicht alles verraten werden, was Florian erzählt hat – alleine schon deswegen nicht, weil die Perspektive eines ehemals Betroffenen Einblicke gibt, die gar nicht nacherzählt werden können. Nur so viel sei verraten: Florian führt inzwischen ein einigermaßen ruhiges Leben und blickt mit Zuversicht in die Zukunft. Wir wünschen Florian alles Gute und streunen nachdenklich weiter, zurück in ein Leben mit Heizung, Kühlschrank und Pizza.