Wer in Wien mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs ist, hört – begleitet von viel Gekrächze – regelmäßig die Ansage „Bitte seien Sie achtsam! Andere Fahrgäste benötigen Ihren Sitzplatz vielleicht notwendiger.“ Ein kleiner Hinweis darauf, dass Achtsamkeit in unserem städtischen Alltag längst dazugehört – selbst in der tendenziell leicht grindigen Umgebung der Wiener U-Bahnen, Busse und Straßenbahnen. Die Wiener Linien halten mit dieser Durchsage ihre Fahrgäste dazu an, die Umgebung wahrzunehmen und auf die Bedürfnisse anderer zu achten. Eine gute Sache, oder etwas nicht? Bei meinen täglichen Fahrten mit der Straßenbahn habe ich den einen oder anderen Gedanken dazu gehabt, den ich hier aufschreiben möchte.
Achtsamkeit, aber als Qual
Fangen wir mit dem Problem an, dass der Begriff der Achtsamkeit mitunter missbraucht bzw. falsch verstanden wird. Auf Instagram finden sich unter dem Stichwort #Achtsamkeit weit über eine Million Beiträge. Darunter sind nicht nur Fotos von Menschen, die gerade sehr achtsam dreinblicken, sondern auch viele schöne Sprüche. Zum Beispiel dieser hier: „Du bist so glücklich, wie du sein willst“. Die Basis dafür ist natürlich: Achtsamkeit.
So verstanden, blendet Achtsamkeit einen Großteil von Zusammenhängen aus, die es auf unserer Welt gibt: Wir leben in einem ausbeuterischen kapitalistischen System; die Gier einiger weniger treibt viele Menschen ins Elend und die Umwelt in Richtung Klimakollaps. Waaas, dir geht es schlecht dabei? Selbst schuld! Sei einfach etwas achtsamer mit dir und der Welt!
So hilfreich Sprüche wie dieser oder viele weitere sein wollen, so viel Schaden können sie anrichten: Menschen, denen es gerade schlecht geht, fühlen sich dadurch womöglich noch mehr unter Druck gesetzt. Und, wie Martin Schenk 2014 in der Wiener Straßenzeitung Augustin geschrieben hat:
Strukturen strukturieren auch Haltungen. Solidarische Bedingungen prägen und definieren Werthaltungen. Gesellschaften mit stärkerem sozialem Ausgleich weisen höhere Lebenserwartung, geringeren Statusstress, höheres Vertrauen, mehr Inklusion und mehr Gegenseitigkeit auf. Also mehr Achtsamkeit bei gleichzeitig höherer sozialer Ungleichheit funktioniert nicht. Schenk (2014)
Achtsamkeit einzufordern, ohne dabei größere gesellschaftliche Strukturen mitzudenken, ist also vielleicht gut gemeint, aber zu wenig. Ich kriege jedenfalls bei solchen vermeintlichen „Lebensweisheiten“ mittlerweile Zustände, die sehr wenig mit Achtsamkeit zu tun haben. Wie geht es dir, liebe Leserin, lieber Leser, damit?
Achtsamkeit, aber als Folter
Das andere Problem ist, dass Achtsamkeit – diesmal verstanden als meditative Übungen, in der die Wahrnehmung auf das Hier und Jetzt gelenkt wird – nicht für alle den gewünschten entspannenden Effekt hat. Wie Dawn Foster vor einigen Jahren für den Guardian recherchiert hat, kann das Meditieren bei manchen Menschen zu Panikattacken, Depressionen oder Zusammenbrüchen führen. Wie viele davon betroffen sind, ist nicht bekannt; es dürften aber mehr als nur ein paar einzelne sein.
Jedenfalls wird dadurch klar, dass Achtsamkeit nicht die Lösung aller Probleme sein kann, als die sie gerne verkauft wird. Insbesondere dann nicht, wenn die Übungen unbegleitet durchgeführt werden (zum Beispiel per App) oder die Achtsamkeitstrainer*innen nicht damit umgehen können, wenn ihre Schützlinge in Panik erstarren, statt zu entspannen.
So gesehen ist es vielleicht sogar besser, wenn nicht alle Fahrgäste der Wiener Linien achtsam sind und lieber auf ihr Handy starren. Wer weiß, wovon sie sich gerade ablenken müssen…
Achtsamkeit, diesmal als Therapie
Das hier soll aber kein undifferenzierter Rant gegen die Achtsamkeit sein. Im Gegenteil, Achtsamkeit wird seit vielen Jahren erfolgreich in Therapien eingesetzt – aber eben in einem sicheren und professionellen Setting, fernab von Marketingstrategien und impliziten Schuldzuweisungen.
Das Wahrnehmen des eigenen Körpers und das ruhige Einordnen von Gefühlen ist bei einer ganzen Reihe von psychiatrischen und psychosomatischen Symptomen hilfreich, schreibt der Psychiater Bessel van der Kolk:
Die Herausforderung bei der Genesung [von einer psychischen Krankheit] ist es, die Kontrolle über Körper und Geist – über das eigene Selbst – wiederzuerlangen. Das bedeutet, frei mit den eigenen Gedanken und Gefühlen umgehen zu können, ohne davon überwältigt, aufgebracht oder beschämt zu sein oder gar zusammenzubrechen. van der Kolk 2014: 203; eigene (freie) Übersetzung
Um dorthin zu kommen – um den eigenen Körper zu spüren und mit den eigenen Gefühlen umgehen zu können -, ist Achtsamkeit ein guter Weg. Aber bei weitem nicht der einzige!
Van der Kolk geht in seinem Buch auf viele weitere Ansätze ein, wie etwa gemeinschaftliches Singen, Turnen (Yoga), Theaterspielen und etliche mehr. Wer also mit Achtsamkeit nichts anfangen kann, braucht definitiv nicht zu verzweifeln; es gibt eine Vielzahl an Möglichkeiten, um sich entspannt und frei(er) zu fühlen.
Aber einen Haken gibt es doch: Im Gegensatz zur Achtsamkeit sind diese Praktiken in den öffentlichen Verkehrsmitteln eher nicht zu empfehlen! 🙂
Literaturquellen
Foster Dawn (2016): Is Mindfulness Making Us Ill? https://www.theguardian.com/lifeandstyle/2016/jan/23/is-mindfulness-making-us-ill
Schenk Martin (2014): Bitte seien Sie achtsam. https://augustin.or.at/bitte-seien-sie-achtsam/
van der Kolk Bessel (2014): The Body Keeps the Score. Mind, Brain and Body in the Transformation of Trauma. Penguin Books
1 Kommentare
Liebe Eva!
Ich hab gerade deine Gedanken über die Achtsamkeit in der U-Bahn gelesen und gebe dir Recht, dass der Begriff missbräuchlich verwendet wird und ich das manchmal gar nicht mehr kann. Achtsamkeit, korrekt verstanden, ist ein Teil meines Unterrichtes geworden. Herzliche Grüße!