Von Friedhof zu Friedhof – eine Radtour im Zeichen des Morbiden

von Stadtstreunerin | Eva
Bild von völlig überwucherten Grabsteinen am jüdischen Friedhof

Unlängst musste das Streunerlazarett mal wieder seine Tore öffnen, um R. und mich aufzunehmen. Tage voller Kopfweh und Husten vertrieben wir uns mit verschiedenen Dokumentationen über das Leben und Sterben in Wien: Besonders fasziniert waren wir von zwei Dokumentationen über den Wiener Zentralfriedhof, wo sowohl die Tierwelt des fast 2,5 km² großen Areals vorgestellt als auch die Pompfüneberer – die Mitarbeiter der Bestattung Wien – porträtiert wurden. Sich da mitten im Sommer dem Morbiden hinzugeben, mag zwar fragwürdig klingen, aber so ist das eben in Wien! Den Wiener*innen wird ja seit jeher eine besondere Beziehung zum Tod nachgesagt, die in dem Ausdruck ‚a schene Leich‘ – also dem Bemühen um ein stilvolles Begräbnis – sprichwörtlich geworden ist.

So ganz weit hergeholt ist das aber wirklich nicht: Immerhin gibt es in Wien eine große Anzahl relativ spezieller Friedhöfe – vom Biedermeier-Friedhof direkt unter der Autobahn über einen Naturbestattungsplatz mitten im Wienerwald bis zum ersten islamischen Friedhof Österreichs reicht da die Bandbreite.

Kaum konnten wir uns wieder halbwegs verlässlich auf den Beinen halten, setzten wir uns schon wieder auf unsere Räder und machten eine ausgedehnte Erkundungstour zu zwei ganz besonderen Friedhöfen, die uns auf fast 50 Kilometer quer durch Wien führen sollte.

Alter jüdischer Friedhof am ‚Zentral‘

Von Hütteldorf aus fuhren wir entlang der üblichen Routen erstmal in die Stadt und weiter über das Gelände des ehemaligen Schlachthofs St. Marx in Richtung Simmering. Der Zentralfriedhof liegt ja praktischerweise gleich direkt an einem gut ausgebauten Radweg auf der Simmeringer Hauptstraße, auf der auch die berühmte Straßenbahnlinie 71 fährt. Erstes Ziel war der alte jüdische Friedhof in der hintersten Ecke des Zentralfriedhofs, der 1879 – also im fünften Jahr seit Beginn der Zentralfriedhofzeitrechnung – eröffnet wurde.

Bild eines Rades, dahinter Grabsteine

Radfahren ist am Zentralfriedhof erlaubt

Hier wurden bis 1916 an die 80.000 Personen begraben, danach war das Areal ausgelastet und am anderen Ende des Zentralfriedhofes wurde eine neue jüdische Abteilung eröffnet. Gemäß alter Tradition werden jüdische Gräber nicht aufgelassen, sondern bestehen einfach immer weiter, auch wenn sich niemand mehr darum kümmern kann. Durch die Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der Wiener Jüdinnen und Juden während des Zweiten Weltkrieges ist das Verhältnis zwischen lebenden und begrabenen Personen jüdischen Glaubens tatsächlich extrem unausgeglichen. Obwohl es immer wieder Bemühungen von Einzelpersonen und der Stadt Wien gibt, ist der alte jüdische Friedhof heute ziemlich verwildert. Die historische Tragik schwingt also immer mit, wenn man durch die Reihen an völlig überwucherten Grabsteinen schlendert, sich die nackten Beine an Brennnesseln sticht oder hie und da ein Reh aufscheucht. Über das Ausmaß des individuellen Leids möchte man lieber erst gar nicht anfangen nachzudenken.

Bild einer Pflanze, die sich über einen Grabstein windet

Die Natur erobert einen Grabstein

Mittendrin fanden wir ein paar Ehrengräber – von den Schriftstellern Friedrich Torberg und Arthur Schnitzler etwa und von vielen weiteren, deren Namen heute nicht mehr so bekannt sind. Besonders freute uns, dass wir zufällig den Grabstein von Gustav Ritter von Epstein (1828-1879) finden konnten – über seine spannende Biographie haben wir im Krankenstand ebenfalls eine Doku angeschaut. Der Bankier ließ mit seinen unfassbaren Reichtümern das Palais Epstein an der Wiener Ringstraße bauen, verlor im Börsenkrach von 1873 aber einen Großteil seines Vermögens und starb verarmt und verlassen. Immerhin hat es für einen halbwegs repräsentablen Grabstein am Zentralfriedhof gereicht. 

Palais Epstein an der Wiener Ringstraße

Das prachtvolle Palais Epstein

Die vielen schwarzen Grabsteine inmitten der Efeuranken, die rätselhaften Symbole und die hebräischen Buchstaben – der alte jüdische Friedhof birgt viele Geschichten und Geheimnisse, die wir an diesem spätsommerlichen Nachmittag nur erahnen konnten. 

Grabstein

Rätselhafte Geschichten vom Leben und Sterben

Unsere Radtour führte uns dann weiter über andere Areale des Zentralfriedhofs, aus dem wir kaum noch herausfanden. Endlich geschafft, zitterten uns bereits die Beine vor Erschöpfung und wir legten eine Pause zur Stärkung ein. Wie gut, dass es sogar im hintersten Winkel von Simmering Labestationen für müde Streuner*innen gibt!


Friedhof der Namenlosen

Danach wurde es spannend: Würden wir das zweite Ziel unserer Friedhofstour auf Anhieb finden? Immerhin betraten wir diesmal wirklich Neuland. Zum Glück lotste uns das gerade stattfindende Hafen Open Air Festival mit seinen Beats auf den richtigen Weg, und die Wegweiser taten ein Übriges. Schon fuhren wir in das Areal des Alberner Hafens ein, der diesen Namen natürlich nicht von seinem Sinn für Humor hat, sondern vom Wort „Alber“, einem alten Ausdruck für Weißpappeln.

Eingang zum Friedhof der Namenlosen

Eingang zum Friedhof

Dann waren wir da: am Friedhof der Namenlosen. Durch einen Wasserstrudel wurde hier früher häufig Treibgut angeschwemmt, in dem auch immer wieder die Körper von Ertrunkenen gefunden wurden. 1840 wurde erstmals eine angeschwemmte Wasserleiche aus der Donau beigesetzt. Oft waren die Leichen bereits so zersetzt, dass sie nicht mehr identifizierbar waren – daher erhielten ihre Gräber die Aufschrift ‚Namenlos‘.

Bild eines Kreuzes mit der Aufschrift "Namenlos"

Grabstätte ohne Namen

Dieser ursprüngliche Friedhof wurde 1900 um ein zweites Areal erweitert, das heute noch besteht. An den ersten Friedhof – auf dem 478 ‚Opfer des Stromes‘ bestattet wurden – erinnert heute eine Gedenktafel. Seit 1940 ist der Friedhof aber komplett stillgelegt, denn 1938 wurde Albern an Wien angegliedert und aufgefundene Wasserleichen werden seither am Zentralfriedhof bestattet. Durch die Donauregulierung und das Kraftwerk Freudenau haben sich die Stromverhältnisse aber geändert, sodass heute nur noch sehr selten Leichen angeschwemmt werden. Die Gestaltung des Friedhofs ist geprägt vom früheren ehrenamtlichen Totengräber Josef Fuchs, der sich jahrzehntelang aufopfernd um das Areal gekümmert hat – heute haben seine Nachfahren diese ehrenwerte Aufgabe übernommen.

Am Friedhof der Namenlosen bekam jede aufgefundene Leiche ein einheitliches Grabmal mit schwarzem Kreuz und silberner Jesusfigur, das für eine würdige letzte Ruhestätte sorgt. Ein bisschen schaurig ist die Bepflanzung der Gräber mit Pflanzen, die üblicherweise in Wasser- oder Sumpfnähe aufzufinden sind. Tatsächlich finden sich im Internet auch Fotos vom Friedhofsareal bei Hochwasser, wo nur noch die obersten Spitzen der Kreuze aus dem Wasser hervorragen.

Spezielle Bepflanzung der Gräber

Die spezielle Bepflanzung der Gräber

Der Friedhof ist zwar längst stillgelegt, aber das Andenken an die Toten wird hochgehalten. So gibt es monatlich einen Gottesdienst in der Kapelle und einmal jährlich schickt der Fischerverein Albern ein mit Kränzen und Kerzen geschmücktes Floß mit der Aufschrift ‚Den Opfern der Donau‘ den Fluss hinunter; in einer feierlichen Zeremonie wird der namenlosen Toten und ihres tragischen Schicksals gedacht.

Am Ausgang des Friedhofs findet sich folgendes Gedicht, verfasst von Graf Wickenburg:

Tief im Schatten alter Rüstern
Starren Kreuze hier am düstern
Uferrand.
Aber keine Epitaphe,
Sage uns wer unten schlafe,
Kühl im Sand.

Still ist’s in den weiten Auen,
Selbst die Donau ihre blauen
Wogen hemmt.
Denn sie schlafen hier gemeinsam,
Die, die Fluten still und einsam
Angeschwemmt.

Alle die sich hier gesellen,
Trieb Verzweiflung in der Wellen
Kalten Schoß.
Drum die Kreuze die da ragen,
Wie das Kreuz das sie getragen,
„Namenlos“.


Ergriffen machten wir uns auf den Weg zurück nach Hause. In bewährter Tradition mischte sich Streunerromantik mit den weniger schönen Seiten des Lebens, als wir am Donaukanal entlang direkt in den Sonnenuntergang hineinfuhren, während uns der beißende Gestank der Müllverbrennungsanlage Simmering noch lange begleitete. 


Dokumentationen über den Wiener Zentralfriedhof

Die Pompfüneberer – Ein Tag auf dem Wiener Zentralfriedhof (1994)

Es lebe der Zentralfriedhof (2005)


Literaturquellen

Die Informationen für diesen Beitrag stammen von hier, hier, hierhier und außerdem von hier.

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