Es gibt Metropolen, die diesen Namen verdient haben. Zürich zählt da eher nicht dazu. Ja, nicht einmal eine Hauptstadt ist Zürich! Trotzdem hat die Stadt etwas an sich, das an eine Metropole erinnert. Vielleicht ist es diese gewisse Würde, die Zürich ausstrahlt, gemischt mit dem unprätentiösen Schweizerischen Stolz. Oder einfach eine Erinnerung an die Kindheit, als Zürich beim DKT-Spielen die mit Abstand begehrteste Stadt war. Nichts war so teuer und so gewinnbringend wie ein Hotel in der Bahnhofstraße oder am Limmatquai. Und überhaupt: Limmatquai – was für ein geheimnisvoller Name!
Letzten Herbst hatte ich mal wieder die Gelegenheit, eine Runde durch Zürich zu spazieren. Und die habe ich mir natürlich nicht entgehen lassen! Schon die Anreise hat was für sich: Minutenlang gleitet der Zug am Ufer des Zürichsees entlang, links die Kuhweiden, rechts die vielen hübschen Häuser, über allem weht die quadratische rot-weiße Flagge. Die Schweiz ist reich, das sieht man sofort. Und auch Zürich selbst strahlt das aus: die blitzblanken Straßen, die gepflegten Häuser, die vielen Juweliergeschäfte… Die Menschen in der Stadt sind stylisch gekleidet, aber auf eine unaufdringliche Art. Eine gewisse Bescheidenheit legt sich über alles drüber; selbst die Villen und Paläste sind irgendwie geradlinig, längst nicht so prunkvoll wie bei uns in Wien. Ob man in Zürich überhaupt von Palästen sprechen kann?
Wo der Quai beginnt
Bei einem früheren Besuch hatte ich Zürich mal als „zu saubere Stadt mit viel zu vielen Villen“ bezeichnet. Diesmal war es doch etwas anders: Gleich hinter dem Bahnhof habe ich mich verirrt und Ecken gefunden, die ich dieser Stadt gar nicht zugetraut hätte. Den Hinterhof einer Theaterschule zum Beispiel mit bunten Zeichnungen an den Wänden, Beachvolleyballplätze und einen Skaterpark direkt am Ufer eines Flusses oder eine Kunstwerkstatt mit Schanigarten, wo noch die Weinflaschen der letzten Nacht herumgestanden sind. Es hat richtig nach Alkoholdunst und Zigarettenrauch gerochen, obwohl längst niemand mehr zu sehen war. Nur ein Hund ist aufgeregt einem Ball hinterher gerannt, den seine Besitzerin in hohem Bogen nach vorne geworfen hat. Und auf der anderen Seite des Flusses, dem ich entlang gegangen bin, hat ein Reiher auf Fische gewartet. Ich hatte den Limmatquai gefunden!
Also, auf der Höhe trägt der Weg neben dem Fluss noch einen anderen, einen unscheinbaren Namen. Aber als ich dem Lauf des Flusses gefolgt bin, bin ich nach und nach in die Innenstadt gelangt und dann tatsächlich auch zum Limmatquai. Auf einer Tafel habe ich die lange Geschichte von Zürich nachgelesen, die eng mit dem Fluss verwoben ist. Früher war die Limmat ein wichtiger Handelsweg, jetzt wird sie zunehmend zu einem Naherholungsgebiet. Und die Identität Zürichs hat sich von der Stadt am Fluss zur Stadt am See verlagert – dem Zürichsee.
Blau, blauer, Zürichsee!
Am Weg dorthin hat sich ein nobles Geschäft an das nächste gereiht, die Auslagen voll sündhaft teurer Schuhe und Taschen. Bis ich auf einmal in einem Fenster Gegenstände entdeckt habe, die auf ein billiges Erotikgeschäft schließen haben lassen. Geradezu subversiv ist es mir da erschienen, dieses Zürich. Ich war gespannt, was noch alles auf mich zukommen würde. Aber der Rest hat nur noch aus Käsefondue-Lokalen und Souvenirgeschäften bestanden. Und dann war ich endlich am See.
Der Wind hat die Boote sanft auf den Wellen geschaukelt und sogar die Sonne ist langsam herausgekommen. Ich war fast ein bisschen enttäuscht, dass weit und breit keine Yacht zu sehen war. Stattdessen haben sich Spatzen und Schwäne um die Brotkrümel der Tourist*innen bemüht. Im Hintergrund habe ich eine Mischung aus Arabisch und Schwyzerdütsch gehört, dazu die melancholischen Melodien eines Gitarrenspielers. Alles war vertraut und doch auch – irgendwie fremd. Ich habe mich einfach auf eine Bank gesetzt, die Augen zugemacht und mich in Zürich ankommen lassen.
Am Markt
Ankommen in Zürich bedeutet allerdings auch, sich an die horrenden Preise in der Schweiz zu gewöhnen. Fünf Franken ein Kaffee da, zehn Franken eine Jause dort und schon ist das Urlaubsgeld dahingeschmolzen. Wie gut, dass ich dann auf der anderen Seite der Limmat einen ausgedehnten Flohmarkt entdeckt habe. Der war zwar auch teuer, aber – na ja. Nicht umsonst hat es Zürich in die DKT-Oberliga geschafft! Und vom Markt war ich richtig begeistert. Ob Second Hand Gewand oder Antiquitäten – hier war definitiv kein Ramsch zu finden.
Auf Gebeinen gebaut
Danach hat mich mein Weg auf eine befestigte Anhöhe geführt, den Lindenhof, von dem aus sich ein wunderschöner Blick auf die Altstadt geboten hat. Tourist*innen sind an der Mauer Schlange gestanden für ihre Selfies. Und hinter mir haben Menschen unter den gelben Herbstbäumen große Schachfiguren hin- und hergeschoben – oder mitunter auch etwas ratlos auf die schwarz-weiß karierte Fläche gestarrt.
Dann habe ich einen alten Stein mit einer Inschrift entdeckt, offenbar ein Relikt aus der römischen Zeit. Ich bin stehen geblieben und habe den Text auf einer Tafel direkt daneben gelesen. Franz Hohler hat uns in wenigen, klaren Worten die Geschichte dieser Inschrift erzählt. Und Zürich, diese reiche, noble Stadt, hat mir auf einmal Gänsehaut gemacht…
Folgendes war da zu lesen:
Turicum
Die erste Nachricht
die uns erreicht
aus Zürich
ist
im 2. Jahrhundert nach Christus
der Tod eines Kindes
des kleinen
Lucius Aelius
sein Vater war römischer Oberzöllner
Geld war sicher nicht sein Problem
er hatte ein Amt, eine Frau und zu essen die Fülle
und doch ist der Sohn
nicht älter geworden
als 1 Jahr 5 Monate und 5 Tage
und seine Mutter hieß Secundina
und ihr Kummer ist abzulesen
aus der letzten Zeile des Grabsteins
parentes dulcissimo filio
die Eltern dem herzallerliebsten Sohn.Heute
sind es nur 5 Minuten zu Fuß
von den Kastellen des Geldes
und den Geschäften der obersten Oberzöllner
hinüber zum Lindenhof
wo alte Männer
unter Bäumen
Schachfiguren schieben
und manchmal jemand stehenbleibt
wie ich
und diese Inschrift liest
und denkt
auch wenn in unsrer Stadt
gebaut gebohrt gelocht gerafft wird
bis sie ganz aus Gold ist und aus Glas und Stahl
dann liegt zuunterst doch
ein totes Kind
und eine Trauer
die ausreicht
für Jahrhunderte.
Das muss ich zuhause erzählen, habe ich mir sofort gedacht. Zürich ist ja fast so morbid wie Wien! Und als ich danach durch die prächtige Bahnhofstraße geschlendert bin, hatte ich auf einmal einen ganz anderen Blick auf die Stadt als davor…