Jahrzehntelang war sie ein unauffälliger Hintergrund in meinem Alltag: die alte Lagerhalle auf dem Bahngelände neben meinem Wohnhaus. Wenn ich als Kind den Kopf weit aus dem Schlafzimmer meiner Eltern streckte, konnte ich ihre Umrisse gut erkennen. Das Blau und Gelb ihrer Fassade lugte im Sommer durch die Bäume durch. Ich kann mich nicht daran erinnern, als Kind je dort gewesen zu sein – zu gefährlich erschien den Eltern die Nähe zur Westbahn.
Denn damals, in den 1990ern, fuhren ständig Güterwaggons zwischen dem Bahnhof Hütteldorf und der Lagerhalle hin und her. In der Halle lagerten verschiedene Güter wie etwa Reifen, die hier auf Waggons geladen und in die Welt transportiert wurden. Dieser Vorgang war ziemlich laut: Das Quietschen und Kreischen der Waggons war weithin zu hören. Aber auch das wurde zum Hintergrund, mischte sich in die Geräusche meiner Kindheit und wurde zu einer so alltäglichen Kulisse, dass ich es kaum noch hörte.
Allzu viel gibt es also nicht zu berichten über die alte Lagerhalle, sie war zwischendurch mal ein Möbellager und stand dann lange leer. Als Erwachsene lugte ich mal durch die mächtigen Schiebetüren, die einen Spalt offen standen: Kabelrollen warteten in den Hallen auf ihren Einsatz bei der Bahn, darüber stand unübersehbar der Hinweis „Rauchen verboten“. Im Keller fand ich gerade mal ein paar Spinnweben und längst verlassene Toiletten. Nichts und niemand war dort zu sehen. Ich ließ die Halle fortan Halle sein und sah sie nur noch vom Zug aus.
Aber wie es manchmal so ist mit Dingen, die gerne im Hintergrund bleiben – plötzlich passiert etwas und sie rücken in den Fokus der Aufmerksamkeit. Im Falle der Lagerhalle ist es das „Stadtentwicklungsgebiet Deutschordenstraße“: Bis zum Jahr 2022 baut die Stadt Wien auf dem Bahngelände einen Bildungscampus und etliche Wohnhäuser. (Ich habe in dem Artikel „Meine Kindheit auf der Gstättn“ darüber berichtet.)
Für die Lagerhalle bedeutet das: Sie muss verschwinden. Dabei macht sie erstaunliche Entwicklungen durch! Innerhalb nur weniger Wochen wird das blau-gelbe Gebäude mit den großen Hallen zu ein paar Haufen aus zuerst grob, dann fein gemahlenen Steinen. Ich habe den Prozess dokumentiert.
Von der Lagerhalle…
Im Dezember 2019 steht die Halle noch, von den ersten Abrissarbeiten ist sie aber bereits etwas ramponiert. Baggerschaufeln deuten ihr weiteres Schicksal an, es gibt kein Entrinnen mehr. Eine Frau, die ich bei meinem Spaziergang auf dem Gelände treffe, erzählt mir, dass früher jeden Samstag Flohmärkte in der Halle stattgefunden haben – das muss wohl lang vor meiner Zeit gewesen sein!
Sie weiß auch von der Zeit davor zu berichten: Bevor die Halle gebaut wurde, befand sich hier ein kleiner Wald, daneben war eine Fabrik und ein daran angeschlossenes Gasthaus. Die Bahn nutzte das Areal, um Lokomotiven auf großen Drehscheiben zu parken. Deren Fundamente sind noch zu sehen, werden aber wohl auch bald entfernt werden, genauso wie die Lagerhalle selbst. Schon in zwei Jahren wird hier ein großer Bildungscampus stehen. Ja, so ändern sich die Zeiten, sagen wir einander, bevor sich unsere Wege trennen.
…über einen Steinhaufen…
Anfang Februar 2020 spaziere ich wieder über das Gelände. Rundherum sieht noch alles nach Winter aus. Die Bäume sind kahl, die Krähen krächzen und machen sich einen Spaß daraus, immer wieder gemeinsam aufzufliegen und woanders zu landen.
Für Anfang Februar ist es aber sehr warm, viel zu warm; die Sonne brennt regelrecht herunter. Die Lagerhalle ist mittlerweile abgerissen, ihre Reste liegen aufgehäuft herum – säuberlich getrennt nach Holz, Metall und Steinen.
…zur Pyramide!
An einem kühlen und windigen Tag Anfang März 2020 schaue ich ein weiteres Mal auf die Baustelle. In der Zwischenzeit haben die Bauarbeiter mithilfe ihrer Maschinen die Reste der Lagerhalle zu feinem Schotter vermahlen. Aus der Lagerhalle ist eine Pyramide entstanden!
Eine Pyramide in Hütteldorf, damit könnte ich mich sofort anfreunden. Aber eines ist natürlich trotzdem klar: Was auch immer aus der Halle hätte werden können, wird jetzt nicht mehr – ihr Potential hat sich in Schutt und Steine aufgelöst. Wohin die LKWs die Überreste der Halle transportieren werden, weiß ich nicht. Wie auch immer: Mach’s gut, alte Lagerhalle!
Weiterlesen
Dieser Artikel ist der zweite Teil einer mittlerweile dreiteiligen Dokumentation über das Areal neben meinem Wohnhaus. Hier geht es zu den anderen beiden Teilen:
Das Stadtentwicklungsgebiet vor der Haustüre, Teil 1: „Meine Kindheit auf der Gstättn“
Das Stadtentwicklungsgebiet vor der Haustüre, Teil 3:„Ein Baufeld wird frei“
Der Journalist Erich Kocina und der Fotograf Daniel Novotny haben mich und meine Gstättn in der Presse porträtiert: „Das langsame Verschwinden der Wiener Gstättn“ (25. Mai 2020)
Informationen
Mehr Informationen zum Bildungscampus Deutschordenstraße findet ihr hier.
1 Kommentare
Wenn wir alt sind muss sich erst wer finden, der dann auch noch Interesse an der Vergangenheit hat. Wehmut aber auch Neugierig, wie das Areal werden wird. Ob wir auch nach dem „Früher“ gefragt werden?
„Die Tür zum Draht„ BESTE BILDLEGENDE!!!