Trauma ist politisch

von Stadtstreunerin | Eva

Sich abwenden, wegschauen, schnell weitergehen, darüber hinwegsehen: Mit solchen Verhaltensweisen haben wir gelernt, das Elend und Leid um uns herum auszublenden. Ob es sich dabei um Menschen handelt, die den ganzen Tag am kalten Boden sitzen, um ein paar Münzen zu erbetteln, oder um Kinder, die mitten in der Nacht von der Polizei geholt und abgeschoben werden (was erst diese Woche passiert ist – der Standard hat berichtet) – niemand sieht das gerne, niemand setzt sich gerne damit auseinander, wie viele schreckliche Dinge direkt vor unseren Augen passieren.

Auch ich nicht. Aber seit ich mich damit beschäftige, was ein Trauma ist und wie massiv es das Leben von Betroffenen verändert, fällt es mir zunehmend schwerer, diesen eigentlich völlig unerträglichen Ist-Zustand noch irgendwie auszuhalten.

Wie ich hier auf Stadtstreunen.at schon geschrieben habe, ist ein Trauma kein reiner innerer Konflikt. Eine potentiell traumatisierende Situation entsteht durch das Zusammenspiel von inneren und äußeren Faktoren. Und die äußeren Faktoren sind oft genug – wenn es sich nicht gerade um einen Blitzeinschlag oder um einen Unfall handelt – beeinflussbar, veränderbar. Genau deswegen ist Trauma politisch.

Das sehe nicht nur ich so, sondern auch der mittlerweile verstorbene Psychiater Alexander Friedmann. Er geht sogar so weit, dass er die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) gar nicht so sehr als ein individuelles Krankheitsbild sieht, sondern vielmehr als ein Symptom unserer Gesellschaft(en). Er fragt sich,

(…) ob das Störbild [der posttraumatischen Belastungsstörung] nicht mit größerem Fug und Recht als pathologisches Symptom einer in vieler Hinsicht inhumanen Humanität, als dass sie als pathologisches Symptom ihrer Opfer anzusehen wäre. Friedmann 2004: 22f (Hervorhebung von mir)

Wir nehmen in Kauf, dass Menschen – wie eben erst gestern eine Wiener Schülerin und ihre Familie – durch politische Entscheidungen schwer traumatisiert werden. Aber nicht nur sie, auch ihre Mitschülerinnen und Mitschüler: Denn auch Menschen, die „nur“ dabei zusehen, wie Unrecht und Leid geschieht, können die typischen Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung entwickeln. Zentral dabei ist das Erleben von Hilflosigkeit und Ausgeliefertheit angesichts von politischen Entscheidungen, die schwer bis kaum nachvollziehbar sind.

So sind wir alle in irgendeiner Form mit dieser „inhumanen Humanität“ konfrontiert und versuchen, damit umzugehen, indem wir uns abwenden. Leider wird davon nichts besser; das Trauma bleibt. Was können wir tun, um in einer solchen Situation noch handlungsfähig zu bleiben? Alexander Friedmann hat da einen Vorschlag:

Wo, wenn nicht beim Schwerstgeprüften, sollte der Mensch Zeugnis von seiner Menschlichkeit ablegen? Wann, wenn nicht in der Zeit nach den Katastrophen? Wer, wenn nicht alle Mitglieder der menschlichen Gesellschaft? Wie, wenn nicht mit allen Fasern des Menschseins, also sowohl mit Vernunft, wie auch mit Gefühl, mit der gebotenen Distanz nicht mehr, als mit der nötigen Nähe? Friedmann 2004: 30f

Ein Zeugnis der Menschlichkeit ablegen – das gilt es in Zeiten wie diesen, in welcher Form auch immer. Dazu brauchen wir uns gar nicht sonderlich bemühen: Jeder Mensch trägt diese Menschlichkeit in sich. Es liegt an uns, sie auch hervorzuholen und der Welt zu zeigen.


Literaturquellen

Friedmann Alexander (2004): Allgemeine Psychotraumatologie. In: Friedmann Alexander, Hofmann Peter, Lueger-Schuster Brigitte, Steinbauer Maria, Vyssoki David (hrsg. 2004): Psychotrauma. Die Posttraumatische Belastungsstörung. Wien/New York: Springer Verlag, S. 5-34

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