Der 31. Dezember ist ein Fixpunkt im Jahreskalender. Mit Raketen und Ritualen auf in ein neues Jahr! In der Eisenbahnwelt gibt es ein Datum von ähnlicher Bedeutung: den Fahrplanwechsel Anfang Dezember, auch bekannt als Fahrplansilvester. Wenn der Fahrplan für ein weiteres Ferro-Jahr in Kraft tritt, werden zwar keine bunten Raketen abgefeuert, aber eine festliche Ausfahrt mit einer neuen Zugverbindung darf nicht fehlen.
Letztes Jahr haben wir den neuen Nachtzug nach Cluj-Napoca in Rumänien ausprobiert. Heuer steht uns eine Kreuz- und Querfahrt durch Mitteleuropa im Sinn: Es gibt eine ganz frische Nachtzugverbindung von Venedig nach Stuttgart. Wir fahren also am „Silvesterabend“ von Wien nach Venedig, mit dem Nachzug weiter nach Stuttgart und von dort wieder zurück nach Wien. „Weil es geht“, wie Helmut so schön sagt (der übrigens als Fahrplanplaner maßgeblich dazu beiträgt, dass es geht). Mit dabei sind außerdem Marlene und David.
Silvesterfrühstück im Speisewagen
Dieser besondere Feiertag muss natürlich würdig begangen werden – auch schon auf der Fahrt nach Venedig. Der Speisewagen des EC 151 „Emona“, der uns von Wien nach Triest bringt, wird von uns mit einer goldenen Girlande geschmückt. Der slowenische Kellner schaut erstaunt, aber er ist wohl einiges gewohnt und enthält sich eines Kommentars. Ein Eisenbahnfreund, den wir „zufällig“ treffen (immer diese üblichen Verdächtigen…), schenkt uns Glücksschweinchen aus Schokolade. Happy Silvester!
Während wir im Speisewagen fröhlich frühstücken und später mittagessen, zieht die grau-braune Landschaft an uns vorbei. Am Grenzbahnhof zu Slowenien beginnt es zu regnen, und der Regen wird unser Begleiter, bis es schließlich nach Ljubljana dunkel wird. (Hier habe ich vor mehr als zehn Jahren mein Erasmus-Semester verbracht.)
In der slowenischen Hauptstadt müssen wir uns von dem Speisewagen verabschieden, der hier abgekoppelt wird. Die restliche Fahrt bis Triest beschäftigen wir uns also nicht mehr mit Essen, sondern vor allem damit, um den knappen Anschluss nach Venedig zu zittern: Wir haben nur fünf Minuten Umstiegszeit. Aber vse v redu, tutto bene. So soll das!
Kurzbesuch in Venedig
Auch in Venedig regnet es. Die Luft ist anders, feucht und warm und ein bisschen salzig. Nachdem wir den Canal Grande bewundert haben – daran führt in Venedig einfach kein Weg vorbei -, suchen wir ganz in der Nähe ein Ristorante, das uns empfohlen wurde: Es heißt „Il vagone“, der Waggon, und bietet solide italienische Küche. Leider hängt kein einziges Eisenbahnbild an der Wand. Was für ein Versäumnis!
Countdown im Schlafwagen
Lange bleiben wir nicht in Venedig – leider, diese besondere Stadt ist mir bei meinem letzten längeren Aufenthalt ans Herz gewachsen. Mit einem grell beleuchteten Zug fahren wir durch die Lagune nach Venezia Mestre, wo wir in den Nachtzug nach Stuttgart umsteigen. (Aus irgendeinem Grund kann der Nachtzug nicht bis Santa Lucia fahren – peinlich für die Premiere, aber wir sehen mal darüber hinweg.)
Mit etwas Verspätung verlassen wir dann Venedig und rollen hinein in die verregnete Nacht. Jetzt wird es spannend: Der Countdown bis Silvester läuft. Wir vertreiben uns die Zeit bis dahin mit Sekt, veganen Lachs-Brötchen und Glückskeksen, so wie sich das gehört. Dann heißt es: 5, 4, 3, 2, 1… Happy new Fahrplan-Year!
Schnee in Stuttgart
Mitten in der Nacht wache ich auf. Wir stehen gerade am Bahnhof Salzburg, wie ein Blick aus dem Fenster zeigt. Eine witzige Vorstellung, dass wir nach mehr als zwölf Stunden Fahrt nur zweieinhalb Stunden von Wien entfernt sind! In Salzburg bekommt unser Zug Verstärkung: Waggons aus Budapest und Zagreb werden angehängt. Bisher sind die verschiedenen Kurswagen ab Salzburg zusammen nach München gefahren, jetzt geht es erstmals weiter bis Stuttgart.
Die Außentemperatur-Anzeige im Waggon zeigt Minusgrade an; neben den Gleisen liegt Schnee. Auch am nächsten Morgen finden wir uns in einer wunderschönen weißen Landschaft wieder, und sogar in Stuttgart schneit es aus vollen Flocken.
Hier trennen wir uns vorläufig: Helmut probiert die neue Schnellfahrstrecke nach Ulm und zurück aus, David und Marlene erkunden die Stadt und ich – ich habe etwas ganz Besonderes vor. Typisch Stadtstreunen! Es ist eisig kalt, aber das macht nichts: Noch im engen Zugabteil ziehe ich mir umständlich mehrere Schichten warmes Gewand an (hier geht’s zum passenden Outfit) und schon bin ich gerüstet für meine kleine Expedition.
Eine Skulptur in Stuttgart
Dazu muss ich ein bisschen ausholen. Im Februar 2022 hat es mich nach Nordschweden verschlagen, in die Stadt Umeå. Ich habe mich dort anfangs recht verloren gefühlt, so ganz alleine am gefühlten Ende von Europa. Mein erster Ankerpunkt wurde eine faszinierende Skulptur aus grünem Glas gleich neben dem Bahnhof, die mir als Wegweiser diente.
Der schwedische Glaskünstler Vicke Lindstrand hat aber nicht nur diese Skulptur namens „Grünes Feuer“ erschaffen, sondern auch einige weitere, wie ich auf Wikipedia nachlesen konnte. Eine davon steht ausgerechnet in Stuttgart! Natürlich musste ich den Kurzbesuch dazu nutzen, diese Verwandte von Umeå aufzuspüren.
Die ebenfalls aus grünem Glas bestehende Skulptur trägt den Namen „Ikarus Nadel“ und ist nicht neben dem Hauptbahnhof und seiner ewigen Baustelle zu finden, sondern auf dem Gelände der Universität – und das gar nicht mal so einfach. Ich spaziere einige Zeit an den brutalistischen Gebäuden vorbei, bis ich die neun Meter hohe Nadel finde. Sie steht direkt neben dem Institut für Luftfahrt und bleibt dort unkommentiert: Kein Schild weist mich auf den Urheber oder auf die Entstehungsgeschichte hin.
An diesem Tag bin ich sicherlich die einzige weit und breit, die von der versteckten Verbindung zwischen Stuttgart und Umeå weiß: Kein Mensch begegnet mir auf meinem Streifzug. Ähnlich alleine wie damals in Schweden, kann ich die Skulptur in aller Ruhe bestaunen.
Als Maus unterwegs
Auf dem großzügigen Gelände der Universität finde ich noch einige weitere Kuriositäten: darunter einen Windkanal, der optisch ein wenig an die Skulptur erinnert, einen von Betonpfeilern flankierten Tischtennis-Tisch und ein menschenleeres Institut. Wie eine Maus schleiche ich durch die Gänge, bis ich in einer Teeküche eine offene Packung Lebkuchen finde, der ich nicht widerstehen kann. Husch – und schnell wieder raus!
Ein Tag als Gesamtkunstwerk
Auch der restliche Tag in Stuttgart ist spannend: Wir treffen insgesamt drei Freunde von Marlene, Helmut und mir, die in oder bei Stuttgart leben, fahren eine Runde mit dem Riesenrad, besuchen den finnischen Weihnachtsmarkt und ich werfe einen raschen Blick ins Kunstmuseum, für das ich bei meinem letzten Stuttgart-Besuch keine Zeit hatte. Zwischendurch stärken wir uns mit der deftigen schwäbischen Küche und ruhen uns später in einem Kaffeehaus von dem ganzen Trubel aus. Was alles in einen Tag hineinpasst!
Ein letztes Highlight erwartet uns am Abend: Der allererste Nachtzug von Stuttgart nach Venedig bricht auf, begleitet von Medienrummel und interessiertem Publikum. Sogar ein Gondoliere und eine Karnevalfeiernde stehen am Bahnsteig und lassen sich gemeinsam mit uns und ihrer Gondel ablichten.
Von Wien nach Venedig nach Stuttgart nach Umeå nach Stuttgart nach Venedig… so klein ist die Welt!
Zugfahren in weißer Landschaft
Während Marlene und David noch am Abend den Nachtzug zurück nach Wien nehmen, bleiben Helmut und ich über Nacht in Stuttgart und fahren am nächsten Tag mit dem Tageszug. Dabei entscheiden wir uns für die längere Variante über Lindau am Bodensee: eine direkte Zugverbindung, die erst seit einem Jahr existiert und also auch ausprobiert werden muss. Das beschert uns einen langen Zugtag bei traumhaft schönem Wetter. Von Stuttgart bis Wien liegt eine fast durchgehende Schneedecke.
Am Abend sind wir wieder in Wien. Ein eigenartiges Gefühl, nach so kurzer Zeit wieder zuhause zu sein, und doch so viel erlebt zu haben!
Bis bald im Zug!
Anmerkung: Dieser Artikel enthält bezahlte Werbung von douglas.at.
Das Copyright der Fotos liegt bei mir, mit folgenden Ausnahmen:
Fotos, auf denen ich zu sehen bin, Frühstücksfotos © Helmut
Foto von Helmut und mir © David
Fotos von uns allen am Bahnsteig © unbekannt
Weiterlesen
Fahrplan-Silvester 2021: https://stadtstreunen.at/weisse-stadt-im-wintergrau-alba-iulia-in-rumaenien/
Mehr Informationen zur „Ikarus Nadel“: https://stuttgart-vaihingen.info/de/kunst-kultur-kirchen/kunstwerke/item/ikarus-nadel
Das Kunstmuseum in Stuttgart: https://www.kunstmuseum-stuttgart.de/
David betreibt den Account „Dining Car“ auf Twitter und Mastodon, auf dem er Berichte aus den Speisewägen dieser Welt sammelt, und hat auch eine eigene Website: https://diningcar.at/
Reiselektüre
Ich lese ein Fachbuch über Psychotherapiewissenschaft während der Fahrt. Interessanter für die Allgemeinheit ist da wohl Marlenes Reiselektüre: Sie liest „Ändert sich nichts, ändert sich alles. Warum wir jetzt für unseren Planeten kämpfen müssen“, das eindrucksvolle Plädoyer der österreichischen Biologin und Klimaaktivistin Katharina Rogenhofer für ein Umdenken in Sachen Klimaschutz. Perfekt für eine lange Zugfahrt!
Hast du schon einmal mehrere Städte an einem Wochenende „abgeklappert“? Wie hat es sich angefühlt? Schreibe mir gerne deine Erfahrungen in die Kommentare!