von Stadtstreunerin | Eva

Mirja

Mein gerade entstehender Roman Mirja erzählt die Geschichte einer jungen Frau namens Mia, die sich, aus der österreichischen Provinz stammend, ein neues Leben in Wien aufgebaut hat. In einem heißen Sommer fühlt sie sich plötzlich vom Wald verfolgt. Ein Spießrutenlauf beginnt, der sich dramatisch zuspitzt, bis sie erkennt, dass sie sich ihrer Vergangenheit stellen muss. Der Roman lotet die Gefühle von Nicht-Zugehörigkeit, Angst und Dissoziation aus, endet aber mit neuer Zuversicht.

Die Leseprobe stammt aus dem ersten Kapitel namens Waldgedanken.


 

Mia hetzte sich ab. Ein Schritt, noch ein Schritt, einer größer als der nächste, bis sie zu laufen begann. Es musste schneller gehen, die Stadt musste unter ihren Füßen zu fliegen beginnen, sie durfte nicht anhalten, nicht jetzt. Keine Pause, immer weiter. Mia keuchte schon, in ihren Beinen war ein stechender Schmerz, und der Schweiß lief ihr in Strömen herab. Die Sonne stand tief, brannte aber noch in ihr Gesicht. Mia hielt durch, rannte über den Zebrastreifen auf die andere Straßenseite, rannte an Fassaden entlang, ein Haus ging ins nächste über. Es war wichtig, dass sie dem Wald entkam, und dazu musste sie laufen, immer schneller werden, bis alle Farbtöne ineinander verschmolzen, bis sie kaum noch etwas erkannte, bis sie in Sicherheit war. Sie bog noch um eine Ecke, rammte fast eine Passantin und kam aus dem Gleichgewicht, aber dann stand sie endlich vor ihrer Tür. Schnell hinein in das Haus, ich muss mich vor dem Wald retten, dachte Mia, los, los, komm schon. Endlich fand sie den Schlüssel und steckte ihn mit zitternden Händen ins Schloss. Kaum war die Tür zugefallen, blieb sie stehen und musste sich fast übergeben, so schwindlig war ihr auf einmal. Die Stadt zog vor ihren Augen vorbei, noch einmal, Fassade für Fassade, bis alles zu einem Stillstand kam. Sie atmete so tief, wie sie nur konnte, die Luft rasselte in ihrer Lunge. Nur langsam beruhigte sich ihr pochendes Herz, dann ging sie weiter, die Wendeltreppe hinauf, an den kaum benutzten Wasserbecken vorbei, die in jedem Stockwerk an der Mauer montiert waren, bis sie vor der Wohnungstür stand. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und sperrte die Tür auf.

„Mia!“, kam ihre Mitbewohnerin ihr entgegen, „da bist du ja endlich!“
„Hallo Haya“, brachte Mia hervor.
Haya ging in die Küche und holte ihr ein Glas Wasser, während sich Mia die Schuhe abstreifte und das elegante Shirt abwarf. In ihrer WG galt die Regel: Wenn es heiß ist, kannst du herumlaufen, wie du möchtest, auch nackt. Mia mochte es nicht, gar nichts anzuhaben. Sie ließ die Unterhose und den BH an, lockerte nur ein wenig seine Träger. „Hier, trink mal, du siehst erschöpft aus.“ Haya hielt ihr das Glas Wasser hin.
Mia nickte und trank gierig, bis sie sich verschluckte. Sie hustete. Diesmal war sie nur knapp dem Wald entkommen, das wusste sie, aber sie wollte Haya nicht davon erzählen. Nein, sie konnte es gar nicht erzählen. Wie sollte sie denn in Worte fassen, dass sie mitten im Sommer, mitten in der Stadt vom Wald verfolgt wurde?
„Immer noch sehr warm draußen“, versuchte Mia stattdessen zu erklären, sobald sie wieder normal atmen konnte, „und ich hatte nichts zu trinken mit“.
„Passt schon.“ Haya winkte sie in die Küche, lässig wie immer. „Komm, ich hab uns Abendessen gemacht.“
„Wirklich?“ Mias Miene hellte sich auf, sie liebte das Abendessen mit ihrer Mitbewohnerin. Haya vertrieb sich die Zeit damit, am Markt frisches Gemüse einzukaufen, Kräuter und Gewürze. Danach holte sie oft noch ein Fladenbrot von der türkischen Bäckerei nebenan und stellte sich in die Küche, um alles zuzubereiten. Diesmal hatte sich Haya aber selbst übertroffen, der Tisch ging beinahe über vor lauter kleinen, bunt gemusterten Tellern, auf denen Mia eingelegte Melanzani sah, verschiedene Aufstriche, eine braune Paste und klein geschnittenes Gemüse.
„Wenn schon Sommer in der Stadt, dann so“, sagte Haya und machte eine einladende Handbewegung. Ihr lockeres hellgelbes Kleid, ihre dunklen Locken schwangen mit ihr mit. Sie sah aus wie der Sommer in Person. Mia war es gewohnt, dass Haya hübsch war, sonst hätte sie ihr vielleicht ein Kompliment gemacht.
„Fast wie ganz woanders“, staunte sie stattdessen. Sie setzte sich hin und lud sich ihren Teller voll, dann biss sie an der Stelle in das Fladenbrot, wo die meisten Sesamkörner waren.
„Aber Achtung vor dem da!“ Haya deutete auf die braune Paste. „Das ist sehr scharf geworden, ich habe zu viel Chilipulver erwischt.“
Zu spät, Mia hatte schon davon gekostet. „Sehr scharf? Viel zu scharf ist das!“, rief sie und riss den Mund auf, um sich Luft zuzufächeln. Tränen traten ihr in die Augen, sie hustete. Haya sah schuldbewusst drein und riss ihr ein Stück Fladenbrot ab. Als die Schärfe wieder nachgelassen hatte, merkte Mia, wie sich ihre Schultern entspannten. Sie holte tief Luft. Sie war da, wieder da, zuhause, in Sicherheit. Endlich fühlte sie sich besser.

An diesem Abend war sie froh, dass Haya die Unterhaltung für sie übernahm. Wenn niemand sie bremste, konnte Haya stundenlang erzählen, zuerst über die Erlebnisse im Alltag, dann schweifte sie immer weiter aus. Die Laute wurden zu Worten, die Worte zu Sätzen, zu Absätzen, zu Kapiteln, zu einem ganzen Buch: ein Buch über Haya und wie sie die Welt sah. Mia nickte ab und zu oder fügte ein „hm“ ein, dann sprach Haya schon wieder weiter, bis sie sich müde geredet hatte.
„Ich muss schlafen gehen“, sagte sie auf einmal, sich selbst unterbrechend, und stand auf.
„Gute Nacht“, rief Mia ihr hinterher, als sich Haya auf den Weg ins Bad machte.
„Gute Nacht“, hörte sie noch gedämpft, bevor Haya den Wasserhahn aufdrehte. Es rauschte. Mia stand ächzend auf und räumte das Geschirr in die Spülmaschine, dann machte auch sie sich bereit zum Schlafen.

In der Nacht kühlte es kaum ab, es war warm und schwül, von irgendwoher war es feucht geworden. Die dampfige Luft verwandelte die Stadt in einen Dschungel. Anstelle des dichten, dunklen Grüns des Waldes war zwar der Asphalt getreten, der Beton und das Bitumen. Aber wer konnte schon sagen, wie lange es dauern würde, bis der Auwald unten am Fluss die Stadt zurückeroberte und alles mit seinen Lianen überzog? Mia konnte nicht schlafen. Sie lag in ihrem Bett und starrte auf die kahle Wand gegenüber. Warum war da schon wieder der Wald in ihren Gedanken, was hatte es damit auf sich? Mia versuchte, an etwas anderes zu denken, an das Abendessen mit Haya, an Hayas Erzählungen, an das Fladenbrot mit den vielen Sesamkörnern. Ob Hayas Eltern wohl damit einverstanden waren, dass ihre Tochter regelmäßig in der türkischen Bäckerei einkaufte, überlegte sie.
„Haya“, hörte sie die strenge Stimme der Mutter, „wir sind Armenier! Wir haben dich nach Armenien benannt!“
Mia wusste, was das bedeutete: Haya war eine Kurzform des armenischen Namens von Armenien, den ihre Eltern gewählt hatten, um ihre Verbundenheit zu dem Land zu unterstreichen. Außerdem hielten sie einen großen Abstand zu allem, was irgendwie Türkisch war. Sie hatten eben ihre Prinzipien, im Gegensatz zu ihrer Tochter. Haya war in der Stadt aufgewachsen, diese Dinge gingen sie herzlich wenig an. Und wenn der Verkäufer mit dem dichten, schwarzen Bart Dienst hatte in der Bäckerei, war es sowieso um sie geschehen.
„Er schenkt mir immer einen Sesamring dazu“, sagte sie, aber Mia hatte den Verdacht, dass es hier um mehr als nur um einen Sesamring ging. Vielleicht war Haya wirklich in ihn verliebt und nicht nur auf eine schnelle Affäre aus, wie sonst so oft? Eigentlich konnte ihr das egal sein, solange Haya sie mit Brot und Gebäck versorgte. Was täte sie nur ohne ihre Mitbewohnerin. Mia war nach den langen Tagen im Büro zu schlapp, um sich selbst um das Abendessen zu kümmern. Am Nachmittag bin ich so müde und jetzt so munter. Und diese Gedanken helfen auch nicht gerade beim Einschlafen, stellte sie nach einiger Zeit fest und stand schließlich auf. Sie holte sich ein Glas Wasser aus der Küche und versuchte dann, wenigstens zu dösen. Erst als sich weit im Osten schon die Dämmerung ankündigte, schlief sie richtig ein.

Am nächsten Morgen fühlte sich Mia nicht besser als in der Nacht. Die Hitze ist schuld, dachte sie, als sie sich um sieben Uhr morgens mühsam aus dem Bett hievte. Die Hitze war anstrengend, das wussten alle, die noch in der Stadt ausharrten, und es stand ein weiterer heißer Tag bevor. Schon beim Kaffeekochen traten Mia die Schweißperlen auf die Stirn. Achtlos wischte sie die Tropfen weg. Während der Kaffee in der Kanne zu brodeln anfing, las sie auf ihrem Handy den Wetterbericht.
„Die Hitzewelle dauert an. Mit viel Sonnenschein erreichen die Temperaturen in der Innenstadt bis zu 36 Grad, am Stadtrand sind Höchstwerte von 33 oder 34 Grad zu erwarten. Im Wiener Umland kann am Nachmittag ein Gewitter entstehen.“
So klang der Wetterbericht schon seit Tagen. Mia stöhnte. Aber sie hatte sich für die Stadt entschieden und damit auch für die Hitze, da bestand kein Zweifel. Niemals würde sie das Leben in der Stadt aufgeben und zurück aufs Land ziehen, wo es doch noch etwas kühler war, zumindest abends, wenn ein kühler Luftzug von den Bergen her über die Felder strich und das Getreide in Wellen legte. Darüber brauchte sie erst gar nicht nachdenken. Außerdem war ihr Büro klimatisiert, und vielleicht würde Haya abends wieder etwas auftischen, und irgendwann würde es auch in der Stadt wieder kühler werden. Schließlich dauerte kein Sommer ewig, auch dieser nicht.


 

Warum heißt der Roman Mirja, die Hauptfigur aber Mia? Finde es heraus, sobald ich einen Verlag gefunden habe… oder schreibe mir, wenn du bei einem Verlag arbeitest und Interesse hast.